Montag, 23. Januar 2012

Arthur C. Clarke: Das Lied der fernen Erde


In den Fünfziger-Sechziger Jahren, als die Neutrino-Teilchen gerade erst entdeckt waren (bzw. in das Atommodell aufgenommen wurden), beobachteten die Astronomen eifrig den Himmel - auf der Jagd nach Neutrinos, die die Sonne ins All geblasen hat. Doch die beobachtete Menge an Neutrinos blieb weit hinter der erwarteten Menge zurück. Für dieses Phänomen gab es nach einigen Überlegungen nur eine mögliche Ursache: Die Sonne hat so gut wie all ihren Wasserstoffvorrat in Helium fusioniert. Sie steht kurz vor dem Verglühen.

Der Schock, der die Welt erzittern lässt, dauert nicht lange an. Fieberhaft berechnen die Astronomen nun, wie viele Jahre ihnen noch bleiben. Nach den ersten Schätzungen dauert es nicht einmal mehr 2000 Jahre. Affektartig wird die Weltraumforschung mit Unsummen Fördergeldern gefüttert, um schnellstmöglich einen Weg zu finden, die Menschen vor der Vernichtung zu bewahren.
Erste Maßnahmen bestehen darin, Planeten anderer Sonnensysteme zu finden, die sich zur Kultivierung eignen könnten. Kolonisierungsraumschiffe werden ausgesendet, um diese Planeten mit menschlichem Leben zu besiedeln. An Bord dieser Schiffe befinden sich befruchtete Eizellen im Kälteschlaf. Sie werden nach der Ankunft aufgetaut, ausgebrütet und die Babys von Robotern großgezogen. Von einigen der besiedelten Planeten kommt Jahrhunderte später tatsächlich ein positives Signal: Die Kultivierungsphase ist geglückt.
Einer dieser Planeten ist Thalassa. Er besteht zum größten Teil aus Wasser, nur kleinere Inselketten stellen die verfügbare Landmasse dar. Zwischen Erde und Thalassa besteht zunächst regelmäßiger Kontakt, doch plötzlich erlischt die Korrespondenz.

Auf der Erde herrscht indes Endzeitstimmung, die letzte Generation schwelgt in Verschwendung und Müßiggang, genießt ihre letzten Tage, bevor sie in das glühende Auge der sterbenden Sonne sehen müssen. Endlich hat sich die Technik soweit entwickelt, um große Massen an Menschen in Kälteschlaf versetzt über große Distanzen bewegen zu können. Mit Hilfe des weit fortgeschrittenen Quantenantriebs kann man annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichen.
Eine Million Erdenbürger werden auf das Raumschiff Magellan gebracht und treten die Reise zu einem Planeten an, der geeignet scheint, von Menschen bewohnt zu werden: Sagan 2. Als die Magellan die Reise antritt, ist das Jahr 3617 angebrochen. Drei Jahre später wird die Erde von der explodierenden Sonne ausgelöscht.
Auf dem Weg nach Sagan 2 ist ein Stopp zur Reparatur des Hitzeschildes notwendig. Die schützende Schicht aus Wassereis muss erneuert werden. Auf gut Glück legt die Magellan diesen Stopp auf Thalassa ein. Tatsächlich existiert die menschliche Population noch. Ein Vulkanausbruch hatte zu seiner Zeit die Antenne zerstört, was den Kontakt abbrechen ließ und die gemütlichen Thalassaner hatten sich bisher nicht dazu aufraffen können, sie zu reparieren.
In dieses friedliche und beschauliche Idyll platzt urplötzlich die überlegene Technik der “letzten Terraner” hinein. Die überraschenden Gäste werden erstaunt aber freundlich empfangen und beherbergt. Ihren Wunsch, sich Wasser aus dem gewaltigen Ozean zu nehmen, um ihren Eisschild aufzubauen, gewährt man ihnen ohne Einwände.
Die Reparaturen dauern zwei Jahre. Für diese Zeit leben etwa einhundert Terraner, die aus dem Kälteschlaf erweckt wurden, mit den einheimischen Lassanern zusammen. Im Roman begleitet man das Crewmitglied Loren Lorenson, der zwischen ihnen und Lassanern als Botschafter fungieren soll. Seine eigentliche Aufgabe während der Reparaturarbeiten bleibt unklar. Er lernt offenbar nur das Land kennen und stellt seine Überlegungen zur Verfügung. Die attraktive und intelligente Lassanerin Mirissa verliebt sich augenblicklich in ihn. Loren selbst musste beim Start der Magellan seine Frau Evelyn zurück lassen. Während er gesund und wohlauf über Thalassa spaziert, ist Evelyn bereits seit 200 Jahren tot.  Trotzdem verfasst er seine tagebuchähnlichen Einträge in Briefform, die er an sie richtet. Schnell entwickelt sich zwischen ihm und Mirissa eine Liebesbeziehung.

Alles eben erzählte spielt sich im ersten Drittel des Buches ab. Was nun folgt, ist die Geschichte zwischen Loren und Mirissa, einer Beziehung, die von der Zeit zerstört würde, sobald die Magellan ablegt und Loren zurück in den Kälteschlaf versetzt würde. Fast zwangsläufig entstehen Gewissenskonflikte und unschöne Verstrickungen mit anderen Lassanern.
Die große Frage, die man mit dem Eintreffen der Magellan auf Thalassa sprichwörtlich näher kommen sieht, lautet: “Wieso sollten wir unsere gefährliche Reise nach Sagan 2 fortsetzen? Wir könnten auf Thalassa bleiben und den Planeten so verändern, dass mehr Menschen auf ihm leben können.” Dieser Gedanke ist tatsächlich hochinteressant und breitet sich gegen Mitte des Buches in den Köpfen der Terraner aus. Wie es weiter geht, möchte ich nicht vorweg nehmen, aber ich merke an, dass es auf eine unerwartete Weise weiter geht.
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Es passiert nämlich nichts. Die Frage wird in einer Konferenz besprochen, man entscheidet, dass es besser ist, den Weg nach Sagan 2 fortzusetzen und die wenigen Terraner, die auf Thalassa bleiben wollen, werden einfach da gelassen.
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Abgesehen von diesem eben genannten, sehr ergiebigen Gedankenexperiment verbleibt die Handlung jedoch die meiste Zeit auf der Beziehungsebene. Die Beschreibungen der Lassanischen Zivilisation, ihre Lebensweise und ihre Mentalität sind zwar glaubwürdig gelungen, entscheiden sich jedoch nicht stark von Terranern. Die ungeheuren Möglichkeiten von Konflikten zwischen Terranern (fortschrittlich, ehrgeizig) und Lassanern (gemütlich, naturverbunden) werden nur im Entferntesten angeschnitten. Es scheint, als würden sich alte Freunde besuchen, eine Zeit lang zusammen wohnen und anschließend wieder voneinander gehen. Das ist so nicht denkbar. Die größte Sorge des lassanischen Präsidenten scheint zu sein, dass die Terraner ihm nicht das Vergnügen bereiten, bei seiner sportlichen Wettkampfveranstaltung teilzunehmen.
Stattdessen wird viel Zeit damit aufgewendet, das Gefühlsleben von Loren und Mirissa zu beleuchten. Andere, sehr faszinierende Entdeckungen wie die ansatzweise intelligenten Krustentiere, die bisher unentdeckt im lassanischen Ozean gelebt haben, erhalten im Vergleich dazu nicht die rechtmäßige Aufmerksamkeit.

Urheber des Buches ist eine essenzielle Frage: Die Frage nämlich, ob wir allein im Universum sind oder ob sich außerhalb der Erde ebenfalls komplexe und sogar intelligente Lebewesen entwickelt haben könnten. Dieses Thema ließ Regisseure und Autoren schon zu mancherlei Fantasie hinreißen. Neben der Annahme, dass es da draußen von fremdartigen und hochentwickelten Kulturen nur so wimmelt, gibt es aber auch die gegenteilige Theorie, wonach die Erde wirklich der einzige Planet ist, dem es durch unzählige Verkettungen von günstigen Zufällen gelungen ist, von Leben überzogen zu werden.
“Inzwischen tobt der Streit; wie ganz richtig gesagt wurde, wird jede Antwort furchteinflößend sein.” (Vorwort)
Clarke hat in diesem Roman den Fall gespielt, dass die Menschen der Zukunft zu letzterem Schluss kommen würden. Sie haben den Weltraum so gründlich abgesucht, Signale gesendet, nie Antwort erhalten und nie irgendwelche Anzeichen von Leben gefunden.
Diese Ausgangssituation - kombiniert mit der erschütternden Feststellung, dass die Sonne kurz vorm Verglühen steht - führt Clarke zu Beginn der Geschichte konsequent fort. Durch die erwiesenermaßene Einmaligkeit des Lebens entwickelt die Menschheit einen unheimlichen Respekt vor dem Leben selbst. Sie versuchen, vor dem Tod der Sonne (und dem damit verbundenen Auslöschen allen irdischen Lebens), andere Planeten zu beleben. Sozusagen ein letzter Gruß aus diesem Sonnensystem: “Uns hat es mal gegeben.”
Sobald sie die Technologie dazu besitzen, Zellen in einen konservierenden Kälteschlaf zu versetzen und Raumschiffe nahe der Lichtgeschwindigkeit fliegen zu lassen, senden sie Kolonisierungsschiffe aus und erzielen damit erste Teilerfolge. Erst kurz vor der Detonation der Sonne ist die Quantentechnologie soweit, dass sie als Antrieb für das mächtige Schiff Magellan genutzt werden kann.

Das ganze Setting, die Ausgangslage, das Handeln der Menschen und die vielen kleinen Beobachtungen, die Clarke während der Geschichte einfließen lässt, beeindrucken zweifelsfrei. Nur nicht so recht dazwischen passen will die ereignislose Liebesduselei zwischen Loren und Mirissa. Umso aufschlussreicher wird diese Beobachtung, wenn die Bemerkung auf wikipedia stimmen sollte, dass Clarke für seine früheren Werke kritisiert wurde, weil sie so kalt und gefühlslos seien. Aufgrund dieser Kritiken soll er angeblich Das Lied der fernen Erde mit einem eher emotionalen Fokus geschrieben haben. Ich kenne die Quelle dieser Behauptung nicht, weiß also nichts über deren Richtigkeit, aber angesichts meiner Beobachtungen beim Lesen deucht es mir plausibel. Es erklärt, was an diesem Roman nicht stimmt. Die reinen Ideen ohne die Schnulzereien drum herum verspricht sich als sehr spannend.

Als Autor bleibt Arthur Clarke für mich persönlich also in jedem Fall interessant - ich werde mir noch weitere Bücher von ihm durchlesen - aber dieser Roman trifft meinen Geschmack weniger. Als kleiner Herzenswärmer in Science-Fiction-Umgebung eignet er sich aber allemal noch.


Basti & Clemens: Danke für das liebe Weihnachtsgeschenk, auch wenn dieses konkrete Buch nicht so hundertprozentig mein Ding ist. Auf Clarke habt ihr mich dennoch neugierig machen können :-)

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