Samstag, 7. Januar 2012

Erich Kästner: Notabene 45

Bei diesem Buch handelt es sich um tagebuchähnliche Aufzeichnungen, die Erich Kästner vom Februar bis Juli 1945 verfasst hat. Im Februar des Jahres hält er sich gerade in Berlin auf, seine Wohnung ist vor kurzem abgebrannt und er besitzt nur noch das, was er am Leibe trägt. Strom und Licht sind die meiste Zeit abgeschaltet, nur wenn die feindlichen Bomber über die Stadt kreisen, wird kurzzeitig Strom ins Netz eingespeist. Die Kriegshandlungen, die sich immer weiter in Richtung Hauptstadt vorwärts schieben, veranlasst die Gauleiter, zu immer verzweifelteren Methoden zu greifen, um die hohen Verluste der deutschen Armee auszugleichen. Die Bevölkerung wird in die Pflicht genommen, ihre privaten Telefonanschlüsse zur Verfügung zu stellen, um notfalls Befehle weiter zu reichen.
Bei der SS herrscht bereits Endzeitstimmung. Das Gerücht kursiert, dass sie angesichts ihres baldigen Untergangs ein letztes Massaker, ein Abschieds-Blutbad in Berlin ausrichten wollen. Kästners Name steht auch auf der schwarzen Liste, aber er darf Berlin nicht verlassen, er gilt schließlich als verbotener Schriftsteller. Er sitzt fest wie die „Fliege im Leimbeutel“.

Durch eine glückliche Fügung kann sich Erich Kästner bei einer Filmcrew an Bord aus der Stadt heraus schmuggeln. Er berichtet von seiner Flucht nach Mayrhofen im Zillertal, die Entwicklungen des Krieges aus dem schmalen Sichtfenster der einfachen Bevölkerung.
Wie zu erwarten, gibt es viel Abscheuliches zu berichten – aber auch Verblüffendes: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lässt sich von der Propaganda der Regierung schon lang nicht mehr täuschen. Im Gegenteil, sie verspotten Hitler und seine Handlanger für ihre plumpen Manipulationsversuche, übergießen sie mit Hohn und prinzipieller Ablehnung.

Propaganda vermag viel. Sie kann schönfärben. Sie ist ein Färbemittel. Doch sobald sie sich anmaßt, Tatsachen auf den Kopf zu stellen, hilft sie der Konkurrenz. Sie wird, wie der Volksmund sich ausdrückt, zur “Antiganda”. Dann schminkt sie einen Schwerkranken, statt den Arzt zu holen. (27. Februar, Berlin)
Die meiste Zeit schwebt man schlichtweg in Unwissenheit, wird nur tröpfchenweise mit Neuigkeiten per Radio aus Berlin versorgt und meist handelt es sich dabei um nüchterne Berichte davon, dass die Alliierten nun ins Deutschland eingebrochen sind, herumschleichen, hier und da die strafende Hand niedergehen lassen und sich an den vorgefundenen Schätzen bedienen. Trotzdem werden unermüdlich Befehle ans Volk weiter gegeben, um den bald erreichten Sieg endlich herbei zu führen. Hitlers traumtänzerische Realitätsferne wird von den Menschen nur noch traurig belächelt.
Man reißt blutige Witze. Roosevelt und Hitler, sagt man, hätten die für den Rest des Krieges verbindliche Übereinkunft getroffen, daß jener die Flugzeuge und dieser den Luftraum zur Verfügung stelle. (7. Februar, Berlin)
Erich Kästner trifft auf amerikanische Besatzungseinheiten, die sich freimütig an den deutschen Besitztümern und Weiblichkeiten bedienen, der männlichen Zivilbevölkerung hingegen dürfen diese noch nicht einmal die Hand schütteln. Er trifft auf einen jungen Infanteristen, der gemeinsam mit anderen jungen Burschen – fast noch Kinder – für den Einsatz in Italien eingezogen wurde, als die dortigen Armeen sich bereits auf dem Rückzug befanden. Beim ersten Feindkontakt wird die Truppenstärke der Kinderarmee schlagartig auf die Hälfte reduziert. Und schließlich auch ein ehemaliger KZ-Häftling kreuzt seinen Weg. Was dieser zu berichten hat, kann sich jeder denken.
Tatenlos und machtlos wird Kästner durch den Strom der Ereignisse gespült. Er selbst kann nicht eingreifen, nichts daran ändern, er kann nur warten, dass etwas passiert und diese Warterei reibt ihn und den Leser irgendwann auf.


Die Aufzeichnungen Kästners stellen eine bedrückend persönliche Perspektive auf das Kriegsgeschehen dar. Es zeigt, wie die deutsch Bevölkerung mit ihrer eigenen Vernachlässigung, Ausbeutung, Unterdrückung und Verheizen als Kanonenfutter für einen übergeschnappten Führer umging. Wie sie ein Leben als Provisorium organisierten, was dem Ziel diente, das verhasste Regime zu überleben. Dies war im Grunde die einzige Genugtuung, an die sich die Menschen klammern konnten.
Das Tagebuch erlaubt einen Blick durch die Augen eines intelligenten Menschen auf die Geschehnisse in diesem Jahr. Seine Beobachtung, seine Gedanken, sein fassungsloses Kopfschütteln angesichts der völlig weltfremden Gauleiter-Befehle im Radio, das kritische Begutachten der einmarschierten amerikanischen Besatzer und die verhasste Ohnmacht aufgrund der eigenen Handlungsunfähigkeit.

Kästner schreibt sein Tagebuch mit der bekannten systemkritischen Grundeinstellung, aber für scharfe Satire fehlt ihm sichtbar die Kraft. Meist berichtet er nüchtern von seinen Erlebnissen und Beobachtungen, überlässt dem Leser sein Urteil. Manchmal klingen die Texte wie Realsatire, manchmal zum Weinen traurig, meistens machen sie aber vorallem eins: Sprachlos.
Das Buch ist Geschichte ohne eine Geschichte. Es ist das tatenloses, verdammtes Dahinplätschern von Ereignissen, denen Kästner verdammt ist, passiv zuzuschauen. Es ist nicht heroisch, nicht neu oder überraschend - welche Zustände zu den Zeiten des Zweiten Weltkrieges herrschten, darüber kann man sich in Sachbüchern ausführlicher und allumfassender belesen.
Kästner fügt diesen Chroniken lediglich seine persönlichen Erlebnisse hinzu - wie wenn der Opa von früher erzählt, vom Krieg. Wer sich wie ich auch so gern von seinen Großeltern von früher, vom Krieg, hat erzählen lassen, der weiß, dass sich Geschichten, die jemand persönlich erlebt hat, viel stärker einprägen. Solche Geschichten sind keine anonymen Zahlenkolonnen oder Daten in irgendeiner Chronik, sondern reale Erlebnisse eines Menschen, der das wirklich alles erlebt hat. Es ist ehrlich, greifbar aber unfassbar.

Bei der Bezeichnung “Gaukultur” muss es sich um einen kompakten Hörfehler handeln. Das Wort ist so mausetot wie seine Erfinder. Hoffentlich. (29. Juni, Mayrhofen)

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