Sonntag, 1. April 2012

Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes



Wir Menschen leben in Gesellschaften, das macht uns aus, es ist für unser Leben unverzichtbar. Was aber passiert, wenn wir uns gegen die Gesellschaft, gegen ihre Regeln, gegen ihre moralischen Restriktionen entscheiden? Wie verlaufen solche Leben? Warum pervertieren Menschen? Warum isolieren sich Andere? Clemens J. Setz stellt spannende und brutale Fragen und überlässt es dem Leser, sich Gedanken über die Antworten zu machen. 



 
Clemens Johann Setz ist Österreicher, wurde in Graz geboren, studierte Germanistik und Mathematik, ist Obertonsänger und arbeitet als Schriftseller und Übersetzer. Für „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ erhielt er 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik für die darin enthaltene Kurzgeschichte „Die Waage“ beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2008 den Ernst-Willner-Preis. 

„Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ ist eine Sammlung von 18 Kurzgeschichten die thematisch rund um die Komplexe Isolation, Gewalt und Perversion angesiedelt sind. Da begleitet man einen Jungen durch seine sadistischen Phantasien und Handlungen, erlebt seine verstörte Umgebung und ist erschreckt von der Gleichgültigkeit mit der er Gewalt hinnimmt; da erlebt man das Grauen, das eine normale Hausgemeinschaft und eine altertümliche Personenwaage in einem Menschen auslösen können; da gibt ein Ehepaar mit der Ehe auch jede Zurückhaltung, jede Scham, jede Hemmung ab, um sich in einem Strudel von sexuellen Perversionen selbst zu verlieren; da will eine Frau in einen Käfig gesperrt werden; da verlieren sich Menschen darin, stundenlang auf eine Kinderfigur einzuschlagen, um sie nach ihrem Bilde zu formen; da verschanzen sich Menschen in Riesenrädern oder unter Glaskuppeln, um ihren Mitmenschen zu entkommen; da will ein Mann eine Leiche wegräumen, unter den Teppich, in die Badewanne, in den Schrank Hauptsache aus dem Blickfeld.

Alle Geschichten sind auf ihre Art verstörend und erzählen über Abweichungen vom sozialen Miteinander. Keine der Geschichten führt zu einer Lösung, alle sind nur Bilder, aufblitzende Abgründe, kurz erhellt bis einem beim Anblick des Bodens die Übelkeit hochkommt und wieder, häufig in einem besonderen Schwenk, verblasst, bevor sie zu übermannen droht. Eine kleine Ausnahme bildet eine Art Hommage an David Foster Wallace, in der, in Form einer autobiographischen Arbeit inklusive der typischen Fußnoten, die Geschichte eines Mannes und eines kryptischen Computerspiels aus dessen Nachlass erläutert wird. Aber auch dort, anhand der Figuren im Computerspiel, untersucht Setz Regeln des sozialen Lebens:
„Gewissen entwickelt sich bei seinen Figuren immer nur in einem sozialen Gefüge. Das Objekt Gewissen erwirbt der Spieler demnach erst, nachdem er viele Menschen im Universum des Spiels kennengelernt hat. Das Gewissen ist ein kleiner grüner, mit einer Schnur umwickelter Reisekoffer, [...] Es ist unmöglich, den Koffer zu öffnen, aber der Blick fremder Menschen auf ihn lässt ihn bisweilen anschwellen und implodiern."
Außer in der oben erwähnten Geschichte über die Leiche, treibt er sein Spiel mit der menschlichen Fähigkeit der Ausblendung auch in einer Story über Mobbing. Wie nehmen wir andere Menschen wahr, die still an uns vorbei leben?
„Nebenfiguren sind das Traurigste, was man sich vorstellen kann. Sie kommen schon im Zustand der Entbehrlichkeit auf die Welt, werden später erschossen, verbrannt, in ein dem Verglühen geweihtes Raumschiff gesetzt und angeschnallt oder gleich direkt in den Hades geworfen. […] Sie werden missachtet, gequält, erniedrigt. Sie werden nachts vergewaltigt, ohne dass die Welt dadurch einen Riss bekäme. […] Sie verderben niemandem den Appetit."
Wie lange können wir wegsehen und sind wir nicht sogar wütend, wenn sie zwangsweise unser Leben durcheinanderbringen?
„Das war unangenehm, aber er hatte gehofft, es würde nicht so schlimm werden, dass es bis zu ihm durchdrang. Doch jetzt war genau das passiert, und er wusste, dass es diesmal nicht mehr von allein weggehen würde. Franz Lukas würde nicht mehr mit dem Hintergrund verschmelzen, so wie er es bisher immer getan hatte. Er war keine Nebenfigur mehr, dafür hatte Frau Nusch gesorgt, […] Warum hatte sie das getan?" 
Manchmal sind es unangenehm genaue Beobachtungen, die Clemens Setz da niedergeschrieben hat, da ist man schon fast froh, dass manche Geschichten eher von ihrer Idee leben aber nicht so gut ausgearbeitet sind, dass manches überzogen wirkt, das nicht alles so tief verstört.

Der Sog der Geschichten entsteht nicht nur in den durchweg ungewöhnlichen Ideen, sondern auch in der mal atmosphärischen, mal knappen aber immer mitreißend schnellen Sprache. Manchmal wird Gewalt so lakonisch beschrieben als gälte es eine Gebrauchsanweisung des Schrankbaus zu füllen, anderenorts bettet er den Leser in surreale Szenen, die unendliche Einsamkeit vermitteln. Die Sammlung ist eine Spielwiese von Anspielungen, Fallen und Wendungen, die meist sehr geschickt modelliert sind, wenn auch hier und da ein Experiment nicht auserzählt ist oder zu sehr, zu unglaubwürdig in Gewalt schwelgt.

Das ist eine brillant verstörende Sammlung, die niemanden kalt lässt, die viel über Kunst und Literatur erzählt, die zu lakonisch über das Dunkle im Menschen berichtet, die Abgründe öffnet in die man auch gern nicht gesehen hätte, die viele Fragen stellt und den Leser allein lässt mit der Suche nach Antworten. Kurzum, sie ist das was gute Literatur ausmacht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen