Montag, 16. April 2012

Iwan Jefremow: Das Mädchen aus dem All

(Sammelband mit drei
phantastischen Erzählungen)
Das irdische Raumschiff Tantra ist am Planeten Sirda im Sternzeichen Schlangenträger unterwegs. Die Sirda ist ein von den Menschen kolonisierter Planet, der seit 70 Jahren keinen Kontakt mehr zur Erde hält. Die Besatzung der Tantra soll heraus finden, was dort an der Kolonie passiert ist und sie sollen sich mit einem anderen Raumschiff namens Algrab treffen, was bereits voraus geflogen ist. Dort angekommen ist von der Algrab jedoch nichts zu sehen. Beim ersten Erkundungsflug über dem Kolonieplaneten wird der Mannschaft schnell klar, dass auf der Sirda niemand mehr am Leben ist.

Allein und ohne Kraftstoff-Nachschub muss das Raumschiff zurück zur Erde gelotst werden. Die Navigatoren legen den Kurs so, dass die Tantra schnurgeradeaus fliegen kann und nur für gelegentliche Korrekturen Kraftstoff verbraucht wird. Alles scheint aufzugehen, doch dann gerät die Tantra in das Gravitationsfeld eines gigantischen, dunklen Eisensterns. Mit letzten Reserven landet das Raumschiff auf einem der Planeten, die den schwarzen Stern umkreisen. Der Planet ist in ewige Nacht gehüllt und wirkt ungastlich. Auf der Landeebene liegt bereits ein anderes gestrandetes Raumschiff irdischen Typs und weiter entfernt ein Tellerförmiges von außerirdischer Bauart. Die Besatzung der Tantra bricht sofort auf, um das Wrack des Menschen-Raumschiffes zu untersuchen - um eventuelle Kraftstoffvorräte zu bergen - doch da machen sie Bekanntschaft mit den Bewohnern dieses ewig finsteren Planeten. Schattenhafte Medusen mit vielen Armen, die Energieimpulse als Waffen einsetzen.

Zeitgleich sendet die Erde von einem umkreisenden Satellit aus Botschaften in den Weltraum. Die Menschheit versucht unentwegt, immer mehr Raum des Kosmos zu beobachten und Kontakt zu knüpfen. Alle Satelliten, Monde und Planeten, die von den ausströmenden Entdeckern besiedelt und kolonisiert worden sind, bilden ein stetig wachsendes Kommunikationsnetzwerk, der Große Ring. Mit ihm hofft die Menschheit, andere Lebensformen zu entdecken.
Gerade als die neueste Videobotschaft ins All entlassen wurde, empfängt der Satellit seinerseits ein Signal. Es ist ein Video, was ein fremdartiges aber doch schönes Wesen zeigt - menschenartig - und es spricht zu ihnen in unbekannter Sprache.



Dies ist der Start in Jefremows Zukunftsvision. Sie liest sich spektakulär an, entwickelt sich aber schnell zu einem sehr ruhigen Buch, was der Reihe nach erzählt, wie es auf der Erde in einigen hundert Jahren wohl aussehen könnte. Dabei spricht Jefremow in seiner Ausführung viele Lebensbereiche an. Wie so oft in russischen Fantasmen hat sich die Welt der Zukunft zu einem großen Einzelstaat zusammen geschlossen, in denen der Kommunismus für ein Leben in Frieden und Eintracht sorgt. Größter Stellenwert hat das Kollektiv, Arbeit macht Spaß, der technische Fortschritt ist allheilend und ein Jugendlicher muss erst zwölf Herkulestaten vollbringen, ehe er als vollwertiger Erwachsener anerkannt wird. Für Menschen, die den Gedanken des Kollektivs nicht unterstützen, die nicht arbeiten wollen, egoistisch handeln oder schwere Schuld auf sich geladen haben, gibt es die Insel des Vergessens. Hier leben die Verbannten in altmodischen Rollenbildern als Viehzüchter, Fischer, Getreidebauer und so weiter. Diese Art des Lebens gilt im Rest des Staates nicht nur als überholt und ineffizient, sondern wird verpöhnt.
Über die Vergangenheit wird generell eher in abwertendem Ton gesprochen (oder in dem deutungsschweren Ton von “Schon die alten Griechen wussten, dass...”). Verständnislos erinnert man sich an die Zeit zurück, als die Menschen alte Möbel, Häuser und Schmuckstücke noch für wertvoll hielten.
Bahnbrechend sind die Errungenschaft in der Raumfahrt. Mit großem Energieaufwand werden Schiffe durch den Weltraum geschickt, um mit Überlichtgeschwindigkeit besiedelte Planeten-Außenposten zu besuchen. Mit aller Kraft will die Erde Kontakte knüpfen zu anderen Zivilisationen. Der Große Ring ist ein Zusammenschluss aus Planeten und Satelliten, die die Menschen bereits bereist und besiedelt hat. Sie soll das Sprungbrett zu der ganz fernen Welt sein.
Es gibt multimodale Konzerte, die dem Zuschauer neben Musik auch visuelle Sinneseindrücke vermitteln (diente wohl als Inspiration u.a. für Sergej Snegow und Douglas Adams). Frauen geben ihre Kinder beizeiten in die Hände von Erziehern und Lehrern, um sich selbst wieder vollständig der Arbeit zuwenden zu können. Auf der Insel Java leben alle Mütter, die ihre Kinder selbst erziehen wollen. Natürlich lernen Kinder mit Eifer und Freude. Sie werden alle paar Jahre an völlig verstreute Orte der Welt aufgeteilt, um von anderen Lehrern in anderen Umgebungen neue Eindrücke sammeln zu können. Ebenso wechselt jeder arbeitende Erwachsene in regelmäßigen Abständen seinen Arbeitsplatz, damit ein Zustand der Routine und Nachlässigkeit gar nicht erst eintreten kann. In beiden Fällen wird nebenebei auch noch verhindert, dass sich zwischen den Menschen tiefe Freundschaften oder ein stabiles soziales Umfeld entwickeln.
Manche der beschriebenen Errungenschaften klingen unglaublich radikal (wie die Insel des Vergessens, auf die auch alle verbannt werden, die in ihrem Beruf eine Fehlentscheidung getroffen haben) und hätten Potential, die Geschichte zu einer ausgewachsenen Dystopie ausarten zu lassen. Obwohl von Frieden und Einklang die Rede ist (die modernen Menschen wissen nicht einmal mehr mit dem Wort “Waffen” etwas anzufangen), hat der Rat keinerlei Skrupel, der Bevölkerung ein Jahr lang Verzicht in der Energieversorgung zuzumuten, nur um ein Raumschiff zum Andromedanebel losschicken zu können, in dem vor zehntausend Jahren intelligentes Leben existiert haben müsste. Das Motto lautet offenbar: Fortschritt um jeden Preis.
Doch Jefremow scheint diese radikalen Ansichten nicht sarkastisch zu meinen, sondern ernsthaft zukunftsweisend. Das ist  einerseits beängstigend, andererseits interessant - liest man hier schließlich die Vorstellungen (und Wünsche?) eines Zeitzeugen aus den 50er Jahren.
Unabhängig vom SciFi-Genres ist es recht schwierig, das Buch einer Stilklasse zuzuordnen. Ein Handlungsroman ist es deswegen nicht, weil es kein durchgängiges klassisches Geschehen gibt - ebenso wenig wie einen Spannungsbogen. Sobald sich Situationen anbahnen, in denen sich Konflikte anbahnen, werden diese relativ schnell von Jefremow erklärt.
Ein Roman, der den Leser durch seine unfassbare Sprachgewalt berührt, ist das Buch aber auch nicht. Getreu des Stils der russischen ScienceFiction-Großväter lässt es Jefremow lieber technisch-wissenschaftlich angehen, wobei die meisten vorkommenden Verfahren und Erscheinungen eher andeutet anstatt deren Funktionsweise genauer zu erklären.
Ein Roman, der von seinen Charakteren lebt, ist “Das Mädchen aus dem All” definitiv auch nicht. Den handelnden Figuren wird nur das Allernotwendigste an Charakteristiken und Emotionen zugebilligt. “Person A liebt Person B” und “Person C ist traurig darüber, dass Person D ins All aufbricht, von wo sie nie wieder zurück kommen wird”, sind da das Höchste der Gefühle. Charakterliche Tiefe sieht anders aus.
Für heutige Verhältnisse ist die Erzählung von Jefremow also gar nichts von all dem. Aber man darf nicht vergessen, dass das Buch im Jahr 1962 erschienen ist. Über solch lange Zeit büßt eine Geschichte schon mal etwas an Aktualität ein.

Charakteristisch für Jefremows Sprache ist die Leidenschaftslosigkeit, mit der er die Welt der Zukunft beschreibt. Sterne und Nebel, die erforscht werden, tragen keine tollen Götternamen, sondern heißen ganz nüchtern NGR380 oder K-2-2N-88. Satelliten, die aus rätselhaften Gründen auf keinerlei Signal mehr antworten, sind nicht von einer furchteinflößenden Alieninvasion oder von einem Wurmloch verschluckt worden, sondern ganz unspektakulär wegen ihrer eigenen Experimentierfreudigkeit in die Luft geflogen. Menschliche Gefühle haben etwa den Charakter von physikalischen Thesen, über die ganz nüchtern diskutiert werden kann. Dagegen wird nicht einmal versucht, beim Leser irgendwelche Gefühle hervor zu rufen.
“Vor Jahrtausenden schon wußten unsere Ahnen, daß die Kunst und mit ihr die Entwicklung der Gefühle des Menschen für die Gesellschaft ebenso wichtig sind wie die Wissenschaft.”
“Die Beziehungen der Menschen untereinander also?”, fragte der Physiker interessiert.
“Ja.”
Dies wäre nicht weiter schlimm, wenn es in dem Roman vordergründig um fremde Welten oder unbekannte Erscheinungen gehen würde. Doch das Problem bei dem “Mädchen aus dem All” ist eben, dass hier eine Gesellschaft in ihrem Zusammenleben beschrieben wird. Eine Gesellschaft besteht aber nun einmal aus Menschen. Die Menschheit der Zukunft, dargestellt und porträtiert mit dem Pathos einer Archäologiestudie - das liest sich zum einen trocken und zum anderen wirkt die gesamte Welt dadurch auf so seltsame Weise leblos. Gewöhnungsbedürftige Namen, die sich dabei manchmal sogar noch ähneln (Erg Noor, Ren Boos, Mwen Mass, Dar Weter, Weda Kong...), helfen dem Leser nicht gerade dabei, die handelnden Figuren auseinander zu halten und sich in sie hinein zu versetzen.
Ganz anders verfährt der Autor beim Beschreiben der technischen und fortschrittlichen Errungenschaften seiner futuristischen Welt. Hier wird feierlich beweihräuchert, idealisiert und übersteigert. Die Menschen bei Jefremow sind alle übernatürlich schlau, stark, sozial und werden dreimal so alt wie wir heute. Von niederen Wesenszügen wie Neid, Gier, Rache und Feindseligkeit ist hier nichts mehr zu lesen. Der Zukunftsentwurf in diesem Buch schwelgt nicht gerade in differenzierter Bewertung oder gar Ambivalenz, er liest sich eher wie Propaganda. So als gäbe es keinerlei Zweifel, dass hier das ideale Gesellschaftssystem gefunden wurde, was alle zufrieden macht und den negativen Wesenszügen des Menschen angemessen entgegen wirkt.

Unterm Strich hat es mir wenig Spaß gemacht, das Buch zu lesen. Die Ideen, die sich Jefremow für seine utopische Gesellschaft ausgedacht hat, waren zu seiner Zeit vielleicht bahnbrechend neu, für heutige Zeit jedoch schon ein alter Hut.
Wer also wissen will, wie sich ein russischer Autor Ende der 50er Jahre die Zukunft vorgestellt hat, kann “Das Mädchen aus dem All” gern lesen. Wenn nicht, ist das aber auch nicht schlimm.

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