Montag, 30. April 2012

Sewer Gansowski: Die Stimme aus der Antiwelt

(Sammelband mit drei
phantastischen Erzählungen)
Stell dir vor, es gäbe eine Maschine, mit der man die Gedanken anderer lesen könnte. Oder stell dir vor, man könnte Menschen vervielfältigen. Stell dir vor, es gäbe einen Weg, unsterblich zu werden.

Auf diese und andere Weise hat jeder schon seine Fantasie herausgefordert. In Gansowskis "Stimme aus der Antiwelt" findet sich eine kleine Sammlung genau solcher Gedankenexperimente. Nur sind Gansowskis Fantasmen nicht so allmachtstrebend, nicht so spektakulär und nicht so offensichtlich.
Seine "Stell dir vor, es gäbe eine Maschine"-Ideen bleiben bescheiden, aber dafür umso verblüffender.



Es handelt sich hierbei um einen Band mit sieben fantastischen Kurzgeschichten.Thematisch dreht es sich bei Gansowski sehr darum, wie Erfindungen oder moderne Technologien unser Leben beeinflussen können. Einige seiner Geschichten haben als Grundannahme eine wie auch immer geartete, nicht näher erläuterte Maschine, die irgendetwas Bemerkenswertes kann.
Ein Erfinder beispielsweise möchte in “Elektrische Inspiration” mit seiner Maschine das Theater revolutionieren. Seiner Meinung nach sind Schauspieler völlig überflüssig. Die Emotionen, die sie durch ihr Spiel beim Zuschauer hervorrufen sollen, können mit der Maschine direkt in den Köpfen erzeugt werden. Also führt er dem Chefregisseur bei der Premiere eines Stückes mit katastrophaler Hauptdarstellerin seine Erfindung vor.
Oder der arme Unternehmer Baker klagt darüber, wie schlecht über ihn gesprochen wird, seitdem er versuchte, die neue Erfindung seines ehemaligen Studienkollegen Freeday zu verkaufen. Freeday hatte einen Apparat konstruiert, mit dem man im Dunkeln sehen konnte. Er suchte einen Geldgeber, denn er wollte die Maschine verkaufen, um damit Blinden das Sehen zu ermöglichen. Baker hingegen verkaufte die Erfindung kurzerhand ans Militär und seitdem redeten die Leute schlecht über ihn... (“Freedays Erblindung”)
Mit der Idee der Antiwelt beschäftigt sich Gansowski in zwei seiner Geschichten. Der brave Zeitungsredakteur Mischa bekommt zum Beispiel eines Abend plötzlich Besuch einer körperlosen Erscheinung, die sich als Forscher aus der Antiwelt vorstellt. Der Antiwelt-Forscher war schon einmal vor Tausenden Jahren hier, aber da gab es noch keine intelligenten Wesen, mit denen er sich unterhalten konnte. Noch während Mischa bangen Herzens klar wird, dass diese Antiweltler einen gewaltigen technologischen Vorsprung haben müssen, bietet der freundliche Besucher an, ihm als Dank für seine Gesellschaft und seine Antworten einen Wunsch zu erfüllen (“Die Stimme aus der Antiwelt”).
In der Geschichte vom “Kristall” verwandelt sich eine geschliffene Linse plötzlich in ein seltsames Ding, was man nicht richtig anfassen kann. Wenn man es berührt, dringt die Hand einfach in die Linse ein und kommt auf der anderen Seite wieder genauso heraus. Erst später kommen die Physiker auf die Idee, dass es sich bei der Linse um ein Portal in die Antiwelt handeln könnte. Zu dem Zeitpunkt sind bereits Lichtstrahlen, Blumentöpfe, Fischgläser und ganze Menschen durch die Linse gewandert.
In “Schritte ins Ungewisse” erzählt ein Mann davon, wie er eines Tages aufwachte und sein Leben viel schneller ablief als das der anderen Menschen. Passanten standen wie festgefroren in Schrittposition, Autos krochen im Schneckentempo voran, der Mann konnte vom Dach springen und sank langsam wie eine Feder zu Boden. Etwas rauer verläuft es in “Drei Schritte auf die Gefahr zu”. Hierbei wird die Flucht einer Gruppe Regimeuntreuer beschrieben, die aus einem menschenverachtenden Staatssystem ausbrechen wollen. Die Lakaien des Systems verfolgen die Fliehenden mit aller Härte. Kilometer für Kilometer dezimiert sich die Größe der Flüchtlingsgruppe, bis am Ende nur noch eine Handvoll von ihnen vor einem dichten Dschungel stehen, an dessen anderen Ende ein unbesetzter Küstenstreifen in Freiheit liegen soll.
Besonders philosophisch wird es in der Geschichte “Zugängliche Kunst”, bei der eine Maschine Gegenstände und sogar Menschen Atom für Atom vollkommen identisch replizieren kann. So werden plötzlich in allerlei Museen gleichermaßen originale Alte Meister ausgestellt und materialisierte Beethovens geben Klaviervorführungen. Die geladenen Museumsgäste Laigh und Cheeson sind von der neuen technischen Errungenschaft nicht begeistert. Das geschenkte Rembrandt-Gemälde werfen sie voll Abscheu in den Kanal. Das ist kein Rembrandt, darüber sind sie sich einig.
Sie gingen weiter und blieben wie auf Verabredung vor dem großen Haus stehen. Vor dem Kellerfenster.
Auf dem verstimmten Flügel wurde immer noch gespielt.
Eine Frauenstimme sagte: “Warte. Wieder war es nicht richtig. Wie trittst du denn aufs Pedal? Das Pedal muß wie das Mondlicht sein... und hier steht doch legato... Nun fang noch einmal an.”
Und eine Mädchenstimme antwortete: “Gleich, Mama.”
Die Freunde lauschten. Cheeson hob die Hand.
“Das ist Beethoven.”
Dann gingen sie weiter.
(In Wirklichkeit war das nicht Beethoven, sondern Mendelssohns “Lied ohne Worte”. Aber Cheeson hatte trotzdem recht.)

Sprachlich hat der Leser hier (an den ungelenken Geschichten-Titeln zu erkennen) nicht die hohe Schule des Ausdrucks zu erwarten. Gansowski schreibt wie die meisten seiner russischen SciFi-Kollegen sachdienlich, schnörkellos, unverklärt und eher auf das Wesen und die Wissenschaft fixiert. Trotzdem ist es kein schwerer Stoff oder in irgendeiner Weise langweilig geschrieben. Allein durch seine Ideen schafft es Gansowski, den Leser neugierig zu machen.
Die Geschichten selbst sind tatsächlich (trotz des weit zurück liegenden Erscheinungszeitraums zwischen 1963 und 1969) ungewöhnlich, verblüffend, unverbraucht. Sie wollen nicht beeindrucken durch größtmögliche Bedrohung oder Hysterie. Sie wollen keinen Weltuntergang beschwören, keine Dystopie an die Wand malen. Die Vorstellung vom schlimmstmöglichen Ernstfall, von der dramatischsten Zuspitzung bis zur Eskalation überlässt Gansowski der Fantasie des Lesers. Er begnügt sich damit, einen ganz alltäglichen Ausschnitt seiner Fantasmen zu schildern.
Die Töne, die er anschlägt, sind bedacht und unaufgeregt gewählt. Er spielt mit seinen Überlegungen, will den Leser keinesfalls verängstigen, sondern wohl eher ebenso faszinieren wie der Auto selbst es gewesen ist. Die Neugier daran, wie Menschen neue Technologien aufnehmen, ist alles, was Gansowski zu motivieren scheint. Dabei werden Möglichkeiten und Gefahren solcher neuen (erdachten) Erfindungen klar, ohne belehrend oder altklug zu wirken. Das finde ich schön, das macht Spaß. Mich haben die Geschichten von Gansowski ehrlich beeindruckt.
Das ist gute Science Fiction, denen man ihr Alter erst dann anmerkt, wenn man ihr Alter kennt.

1 Kommentar:

  1. Das ist ja unglaublich! Ich habe heute meinem Mann von diesem Buch erzählt und finde im Internet diesen Blog!
    Gruß Tina

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