Montag, 4. Juni 2012

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Allein bei dem Titel hat der Autor schon alles richtig gemacht. Der klingt verrückt und weckt sofort Interesse. Vom Titel habe ich mich deshalb sofort anfixen lassen und kurzes Reinlesen zeigte, dass das Versprechen auf eine humorvolle Unterhaltungsgeschichte eingelöst werden könnte. 
In einem Altenheim treffen wir auf Allan Karlsson, der genau an diesem Tag hundert Jahre alt wird.
In einer knappen Stunde sollte die Geburtstagsfeier im Gemeinschaftsraum losgehen. Sogar der Stadtrat wollte anrücken. Und die Lokalpresse. Und die ganzen anderen Alten. Und das komplette Personal, allen voran Schwester Alice, die alte Giftspritze.
Nur die Hauptperson hatte nicht vor, zu dieser Feier aufzutauchen.

Der hundertjährige Allan hat also keine Lust auf das feierliche Händeschütteln zu seinem Ehrentag und tritt stattdessen mit Filzlatschen und hundert Kronen bewaffnet die Flucht durchs Fenster an, direkt zum nächsten Busbahnhof. Während er auf irgendeinen Bus wartet, hat ein junger Mann seine liebe Not, sich selbst und einen sperrigen Rollkoffer in die Bahnhofstoilette zu bugsieren. Also bittet er Allan mehr oder minder unfreundlich, auf den Koffer aufzupassen, während er sich... geschäftlichen Dingen widmet. 
Als just in dem Moment ein Bus um die Ecke biegt, fasst Allan den Entschluss, den Rollkoffer einfach mitzunehmen. Also steigt er ein und lässt sich fahren soweit ihn sein Budget trägt. Währenddessen muss der junge Mann stinksauer feststellen, dass es wohl doch keine gute Idee gewesen ist, den harmlosen Alten zu fragen, ob er mal auf seinen Koffer aufpassen könnte.
Rachsüchtig macht sich der Kofferbesitzer, der ganz erpicht darauf ist, sein Eigentum zurück zu bekommen, also auf die Socken während Allan ganz arglos mit seinem gestohlenen Koffer bei einem freundlichen Herrn Unterschlupf findet. Derweil begreift die feierliche Gemeinschaft im Altenheim, dass der Jubilar verschwunden ist und eine Suchaktion wird gestartet, die sich für die bedauernswerte Polizei bald in eine Art Schnitzeljagd entpuppt.
Im Eifer des Gefechts bringen Allan und sein Gastgeber versehentlich den schlecht gelaunten Kofferbesitzer um die Ecke und machen sich auf und davon zu einer chaotischen Flucht quer durch die Idylle von Schweden. Verfolgt zum einen von der (zunächst noch) gutwilligen Polizei und zum anderen von anderen kleinen Ganoven, die seltsamerweise ein ebensolches Interesse an dem Koffer zeigen wie der erste (mittlerweile leider verstorbene) junge Mann.

Parallel dazu erfährt der Leser die gesamte Lebensgeschichte des sympathischen Glückspilzes Allan Karlsson. Dieser hat nämlich bereits teils freiwillig, teils unfreiwillig die halbe Welt bereist und mit so manchem Regierungsoberhaupt am Tisch gesessen und Schnaps getrunken. Er hat sich in dem Lauf der Geschichte bereits mehr als einmal verewigt. Trotzdem dass er ein so hochanständiger alter Herr ist, hat Allan schon so einige Schoten gerissen, die man ihm durchaus nicht zugetraut hätte.
Aber da geht es dem Leser ähnlich wie der Polizei - und so rollen die Geschehnisse davon, im Wechsel mit den Berichten aus Allans Vergangenheit. Bei letzterem hat Jonasson besonders üppig mit Übertreibungskraut und Nonsens-Pfeffer nachgewürzt.


“Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand” ist ein unterhaltsames Märchen, das in die Gegenwart befördert wurde. Der Held der Geschichte verhält sich zwar keineswegs gesetzeskonform, er handelt aber immer nur aus gut begründeten Motiven heraus oder wird durch eine Notsituation zum Handeln gedrängt. Er wirkt trotz diverser Verbrechen unschuldiger  und moralischer als die machtgierigen und berechnenden Staatsherren oder Entscheidungsträger, denen er begegnet. Mehr noch, er hat die Gabe, seine eigene Unbedarftheit und Naivität auf manche andere Personen zu übertragen, sodass deren gerechter Groll auf Allan einer reinen, ungetrübten Sympathie weicht.
Allan wirkt wie der von Glück beseelte Held einer Geschichte, in der die ganze Welt ihren Anstand verloren hat und sich nach Herzenslust an den Wehrlosen und Schwachen bereichern will. Allan mit seinem klugen Kopf könnte seine Fähigkeiten in diesem Spiel eiskalt einsetzen und sich selbst in eine bequeme, einflussreiche Stellung zu manövrieren. Doch das tut er nicht, er bleibt bescheiden und friedfertig. Das Stänkern und Putschen überlässt er den Ehrgeizigen.
Also erlebt der Leser eine völlig verkehrte Welt: Die Dummen und Rücksichtslosen sitzen auf den Stühlen, auf denen Entscheidungen getroffen werden und die Klugen und Weltgewandten müssen sich von ihnen herum kommandieren lassen. Trotzdem stolpert gelegentlich eine total unbekannte Person ins Rampenlicht der Entscheidungen und gibt der Geschichte ungewollt einen entscheidenden Schlenker (der so viel Einfluss hat, wie es sich der Machtliebäugler nur erträumen kann) ehe er wieder dorthin verschwindet, wo er her gekommen ist.
Diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, sind in dieser Geschichte nicht die Bösen. Und diejenigen, die darauf achten, nicht mit dem Gesetz in Clinch zu treten, sind nicht die Guten. Die Geschichte scheint dem Leser sagen zu wollen, dass es darauf ankommt, warum jemand etwas tut - und weniger, was er tut.
Gleichzeitig wird die die Sympathie des Lesers durch urkomische Situationen gelenkt, sodass man sich selbst nicht einmal mehr schämt, auf der Seite der “Verbrecher” zu stehen.
Dass Allan das noch erleben durfte - ein Frühstück ohne Haferbrei! Das war wahrhaftig eine gute Nachricht. Als er sich an den Küchentisch setzte, spürte er, dass er jetzt auch noch die schlechte Nachricht verkraften konnte.
“Die schlechte Nachricht ist die...”, begann Julius und senkte die Stimme ein wenig. “Die schlechte Nachricht ist die, dass wir gestern in unserem Rausch ganz vergessen haben, die Kühlung wieder auszuschalten.”
“Und?”, fragte Allan.
“Und... naja, der da drinnen ist jetzt so ziemlich tot.”
Allan kratzte sich bekümmert im Nacken, bevor er beschloss, dass er sich von dieser Schlamperei nicht den Tag verderben lassen wollte.
“Zu dumm”, meinte er. “Aber ich muss schon sagen, das Ei hast du perfekt hingekriegt. Nicht zu hart und nicht zu weich.”

Situationskomik ist in dem Buch reichlich vorhanden. Es ist aber nicht so, dass man mit einer permanent geladenen Witzekanone beschossen wird. Die überwiegende Zeit erzählt Jonasson ganz sachlich und ernst. Dazwischen schlägt dann wie aus dem Nichts eine irrwitzige Situation ein und anschließend geht es nüchtern, manchmal auch tragisch weiter. Das macht das Buch zum Einen zu einer Geschichte, die sich nicht zur reinen Sketche-Hascherei herunter klassifizieren lässt, zum anderen zieht sich die ganze Sache aber auch recht schnell in die Länge.
Die rückblickende Beschreibung von Allans Vergangenheit stört den Fluss der eigentlichen Geschichte in der zweiten Hälfte des Romans ein wenig. Dass zwischenzeitlich die Kapitel der Koffer-Odyssee im Vergleich zum Vergangenheitsbericht immer kürzer werden, macht die Sache nicht gerade besser. Die alternierende Erzählstruktur erinnert an derzeitige Spannungsromane, die auf diese Weise zwei parallel verlaufende Handlungen gleichzeitig erzählen. Wenn beide Handlungsfäden geladen sind vor Spannung, mag das den Leser zum Schmökern animieren; in diesem Buch allerdings wird die eigentliche Geschichte dadurch nur spürbar langatmiger - fast so schwafelig wie der Protagonist Allan Karlsson selbst.
Obwohl dem Autor mit dem hundertjährigen Allan eine bemerkenswert ambivalente und trotzdem durchweg sympathische Figur gelungen ist, hätte der Handlung etwas mehr Kürze gut getan. Schräge Szenen zum Schmunzeln findet man aber trotzdem reichlich darin, sodass man dieses Buch ohne schlechtes Gewissen weiter empfehlen kann.

1 Kommentar:

  1. Ich habe die Lektüre auch sehr genossen. Man hält die Konstruktion auf den ersten Blick (also, wenn man eine Zusammenfassung liest) für sehr klamaukig. Aber ich finde, dadurch, dass sie sich auf so viele Seiten verteilt und mit reichlich Spannung garniert ist, fällt das beim Lesen gar nicht so auf. Es ist auf jeden Fall ein sehr kurzweiliges Buch!

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