Samstag, 28. Juli 2012

Philip K. Dick: Nach der Bombe

Stellen Sie sich vor, die Welt geht unter und die Menschheit hat keine Lust, ausgerottet zu werden. Was dann passieren könnte, darüber lesen Sie besser in einem anderen Buch.
Wenn Sie allerdings ein optimistisches Portrait des Menschen vor und nach dem Krieg erfahren wollen - auch wenn die Handlung nicht hundertprozentig realitätstauglich ist - könnte “Nach der Bombe” etwas für Sie sein.


Wir befinden uns in der friedlichen Stadt Berkeley in Kalifornien. Hier hat der Psychotherapeut Dr. Stockstill einen Termin mit seinem neuen Patienten und der Behinderte Hoppy Harrington seinen ersten Arbeitstag beim neuen Arbeitgeber. Aber der Reihe nach: Der neue Patient, der zum ersten Mal den Psychologen Dr. Stockstill aufsucht, nennt sich selbst Mr. Tree. Sein wahrer Name ist allerdings Bruno Bluthgeld. Er war Atomphysiker und musste unter falschem Namen abtauchen, nachdem er im Jahr 1972 wegen einer fatalen Fehlberechnung Testraketen mit Atomsprengstoffen mitten auf der bewohnten Erde abstürzen lassen hatte. Mehr oder weniger berechtigterweise sind hinter Bluthgeld seither eine Menge feindlich gesinnter Leute her. Die Hinterbliebenen der Opfer und Strahlenverseuchten versuchten ihn bereits mehrfach, ins bessere Jenseits zu befördern. Über die Zeit ist Bluthgelds Geist vollkommen zerrüttet. Er bildet sich ein, verräterische Male würden sein Gesicht entstellen und ihn für alle als Schuldigen sichtbar machen. Außerdem bildet er sich ein, alle Aktivitäten des Militärs würden sich nur um ihn drehen. Letzteres ist aber nicht der Grund, weshalb er Rat von psychologischem Fach sucht.
Gegenüber der Praxis des Psychologen befindet sich ein kleines Elektrowarengeschäft, in dem Hoppy Harrington mit seinem Rollstuhl hinein geklappert kommt, um seinen neuen Job anzutreten. Hoppy hat weder Arme noch Beine; trotzdem will er in dem Elektrowarenladen in der Werkstatt als Reparateur arbeiten. Wie er das mit seinen ungelenken mechanischen Prothesen anstellen will, ist sowohl dem Chef als auch dem Verkäufer des Ladens Stuart McConchie ziemlich schleierhaft. Letzterer hat gegen den Krüppel als neuen Kollegen reichlich viel einzuwenden - und macht auch keinen Hehl aus seiner Abneigung. Doch solange seine Arbeit gut ist, will der Chef Hoppy behalten. Und die Qualität seiner Arbeit stimmt, völlig ohne Zweifel. Was die beiden nicht wissen: Zum Reparieren benutzt Hoppy nicht die ollen Metallarme an seinem Rollstuhl, sondern Zauberkräfte. Er beherrscht eine Art Telekinese, mit der er Gegenstände bewegen und auch miteinander verbinden kann. Doch das bleibt sein Geheimnis.
Dieser Tag ist auch der denkwürdige Tag, an dem die erste bemannte Raumstation zum Mars losgeschickt werden soll. Das Ehepaar Dangerfield wird regelrecht von den Kameras verfolgt und die amerikanische Bevölkerung jubelt begeistert ihren mutigen Astronauten zu. Auf allen Fernsehkanälen wird der Start der Rakete live übertragen.

Gerade kurz nach dem Mittag als Bruno Bluthgeld mehr oder weniger enttäuscht aus der Praxis des Psychologen heraus tritt, Hoppy im Reparaturkeller seinem nächsten Bauteil widmet und an den Fernsehapparaten die halbe Belegschaft dem spektakulären Raketenstart zuschaut, bricht draußen die Hölle los. Eine gewaltige Explosion erschüttert die Stadt. Der Chef des Elektrowarenladens, der nach draußen gehen will, um nachzusehen, wird von einer Granate in zwei Hälften geteilt. Im Getöse der Bomben, Geschützen und Flugabwehr fliegt die Marsrakete gerade noch rechtzeitig ins sichere Weltall, während unter ihr die Welt in Staub und radioaktiver Strahlung untergeht. Hoppy hat in seinem Reparaturkeller zum Glück nichts abbekommen. Er frohlockt, denn dieses Bombeninferno hat viele Menschen - wenn nicht sogar die meisten - ausgelöscht. Nun kommt die Chance der Außenseiter. 

Ich werde überleben, das ist so vorherbestimmt. Fergesson dagegen war es bestimmt zu sterben. Das ist eben Gottes Wille. Und Gott weiß genau, was er macht. Es liegt alles in seiner Hand, da ist kein Zufall im Spiel. Das war eine große Reinigung der Welt. Um Platz zu schaffen. Neuen Lebensraum für Menschen, die es verdienen. Für mich zum Beispiel. 
Heran bricht ein neues Zeitalter, in dem Menschen ihre Wagen wieder von Pferden ziehen lassen, in dem Medikamente knapp sind und in dem einfache Hunde oder Ratten durch Mutationen zu seltsamen Fähigkeiten in der Lage sind. In dieser Zeit organisieren sich die Menschen in ihren kleinen Städteverbänden und alles, was sie von außerhalb mitbekommen, erfahren sie durch eine kleine bemannte Raumkapsel, die seit dem Raketenstart friedlich um die Erde kreist.



Philip K. Dick schrieb diesen Roman 1965 zur Zeit des Kalten Krieges. Eben dieser dürfte ihn auch dazu animiert haben, ein Buch mit einem postapokalyptischen Szenario zu schreiben. Bevor irgendwelche falschen Vermutungen aufkommen: Nein, als Zukunftsprognose war das ganze selbstverständlich nicht gedacht. Dazu kommt eindeutig ein bisschen zu viel übersinnliche Zauberei hinzu. Außerdem lässt schon die Wahl der Namen, die zum Teil (erinnernd an jüdische Fabeln) den Charakter der Person widerspiegeln, ein klein wenig erahnen, dass der Autor hier vielmehr eine Moral oder eine Intention in einer märchenhaft übertriebenen Geschichte unterbringen wollte. Genau genommen sind es viele kleine Intentionen, die Dick in diesem Buch anspricht.
Natürlich drängt sich hier der verrückt gewordene Physiker Bruno Bluthgeld in den Mittelpunkt. Er hat durch seine dramatische Fehlberechnung seinen Verstand mit Schuld überschüttet und in die Verwirrung gestürzt. Als Resultat leidet er seither unter dem Wahn, dass alle Dinge auf der Welt nur seinetwegen passieren oder etwas mit ihm zu tun haben. In diesem Zustand ist er nicht nur unglaublich unsympathisch sondern stellt eine echte und ernst zunehmende Gefahr für die Menschen dar. Denn sobald dieser Mann das kleinste Bisschen Macht erhält, nutzt er sie für die bestialischsten Vorhaben aus. Natürlich immer in der Vorstellung, der Welt damit einen Riesengefallen zu tun.
Der einsam um die Erde kreisende Walt Dangerfield seinerseits hat sich (getreu dem Namen) in gefährliches Terrain begeben und durch das ungünstige Timing der Bombenexplosionen ist er nun da oben in seinem Raumschiff gefangen. Doch anstatt sich in Wehmut über seine aussichtslose Situation zu ertränken, nutzt Dangerfield seine exponierte Lage, um den Menschen etwas zu geben, was sie in diesen trüben Stunden dringend brauchen: Aufmunterung und Berichte aus den ferneren Städten. Er übernimmt die Rolle einer selbstlosen Heldenfigur, die den Menschen Stütze ist und ihre Seelen berührt.
Dann haben wir Hoppy Harrington, ein gliedmaßenloser Mensch. Leute wie er werden abschätzig Phokos oder Krüppel genannt. Was das aus einem Menschen macht, wenn man ein Leben lang nur behandelt wird wie ein Irrtum Gottes oder die Strafe für irgendwelche Verbrechen der Menschen, sieht man an ihm. Der Geist des kleinen Mannes (im Gegensatz zum Körper unversehrt und hochentwickelt) hat in einer Duldungsstarre verharrt, in der er die Demütigung seines präapokalyptischen Lebens hinnahm. Er brennt bereits darauf, seinen wahren Wert allen Menschen zeigen zu können. Denn sein wahrer Wert, so Hoppys Überzeugung, ist unermesslich.
Stuart McConchie dagegen, als Dunkelhäutiger selbst häufig Opfer von Anfeindungen und Diskriminierung, ist ausgerechnet derjenige, der dem neuen Kollegen Hoppy am feindseligsten entgegen tritt. Er beschimpft ihn als Krüppel und schwärzt ihn beim Chef an. Alles, was ihn interessiert, ist sein Wohlergehen, dass er einen guten Job hat und dass es irgendwie voran geht. Mit dieser simplen aber praktischen Lebenseinstellung findet McConchie ohne Schwierigkeiten einen Weg in das neue Leben nach der Bombe. Er ist der wahre Überlebenskünstler, ohne dass er eigentlich etwas davon weiß.
Insgesamt zeigt Dick in seinem Roman die starke und konstruktive Seite der Menschen. Sie lassen sich selbst nach so einem vernichtenden Nuklearangriff nicht unterkriegen. Schritt für Schritt erkämpfen sie sich alles wieder, was der Krieg ihnen abgetrotzt hat. Sicher, die materielle Not ist groß, es fehlt an allem, aber letztlich gibt es selbst in schlimmen Zeiten hin und wieder ein Moment des Glücks und der Freude. Auch wenn dieses Glück nur von kurzer Dauer und einer einzelnen Person vorbehalten ist.
Was lernen wir also aus diesem Roman? Nun ja, lernen kann man vielleicht nicht unbedingt daraus. Aber Dick wagt die Prognose, dass die Menschen zäher sind als sie es sich selbst zutrauen. Wenn die Bombardements stoppen und das ausgeblieben ist, was alle befürchtet haben - nämlich, dass keiner überleben wird - dann raufen sie sich zusammen, die Egoistischen und Exzentrischen.
Und was ich für mich auch noch mitgenommen habe: Wichtig ist nicht nur, wie es nach der Explosion weiter geht; es zählt auch, was davor geschah und wie man vor dem Krieg miteinander umgegangen ist.

Sprachlich passiert in diesem Roman nichts, womit ein Liebhaber von Dick-Literatur nicht gerechnet hätte. Es handelt sich um keinen Fall um einen action- oder eventgepeitschten Schmöker. Dick lässt sich Zeit, seine Charaktere vorzustellen. Ebenso gern lässt er den Leser gern mal über gewisse Dinge im Unklaren. Woher diese Explosion kommt, die der friedlichen Idylle in Kalifornien eine derart drastische Wendung gibt, wird nie gesagt. Alles, was der Leser erfährt, ist, dass der Himmel plötzlich in Flammen steht und die Bomben herab regnen. Das Flugabwehrsystem versucht, soviel wie möglich der Sprengkörper abzufangen, aber im Grunde sind sie machtlos. Es klingt beinahe so, als ob es sich hierbei gar nicht um einen Krieg handelt, sondern eine bedauernswerte Fehlfunktion der eigenen Kriegsmaschinerie. Später im Buch erfährt der Leser allerdings wiederum, dass (bis auf wenige kleinere Länder) die ganze Welt in Trümmern liegt.
Neben diesem nicht ganz unwichtigen Rätsel lässt uns Dick auch in manch anderen Belangen im Dunkeln tappen. Über die genauen Aktivitäten des größenwahnsinnigen Hoppy zum Beispiel enthüllt er immer mal wieder ein paar Stücken, aber in manchen Fragen weiß man selbst am Ende des Buches keine Antwort. Für mich persönlich war diese ewige Ungewissheit kein bisschen genussmindernd. Im Gegenteil, mir kam es so vor, als könnte ich mich nun erst richtig hinein versetzen in die Ratlosigkeit und Unsicherheit der handelnden Charaktere.
Eine gute Buchidee unterm Strich. Trotz fehlender Sensationslust ist die Handlung spannend (in dem Sinne, dass sie neugierig macht) und mir gefallen die eigenwilligen Charaktere. Richtige Entscheidung also, dieses Buch zu lesen und Philip K. Dick steht weiterhin auf der Liste der Autoren, von den ich mir noch einiges vorknöpfen werde.

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