Dienstag, 10. Juli 2012

Ian McEwan: Solar

Professor Michael Beard, Leiter des Nationalen Instituts für alternative Energien in London hat mit Ende Zwanzig bereits das erreicht, was andere Forscher noch nicht einmal in einem ganzen Leben schaffen: Er hat den Physik-Nobelpreis erhalten für eine Erweiterung der Einstein-Theorie, die fortan respektvoll als Beard-Einstein-Theorem bezeichnet wird. Doch der Ruhm hat bei dem einst ambitionierten Jungforscher zu einem trägen, selbstzufriedenen Kerl werden lassen. Neue Forschungen betrieb er seither keine mehr. Dafür steigt sein Leibumfang von Jahr zu Jahr. Bereits vier Ehefrauen hat er im Laufe seines Lebens verschlissen und soeben geht die fünfte Ehe mit Patrica in die Brüche. Sie hat davon erfahren, dass Beard sie betrogen hat (wobei sie streng genommen nur ein Elftel der ganzen Wahrheit kennt) und sinnt nun auf Vergeltung: Gleiches mit gleichem.

Inmitten dieser persönlichen Tragödie bricht im Institut ein nerviger, weil ungehörig ehrgeiziger Nachwuchsforscher namens Tom Aldous herein. Er wird von allen Professoren nur nachlässig “der Pferdeschwanz” genannt und über diese Sorte der eindeutig etwas zu freakigen Tüftler macht man am Institut lieber seine Scherze, anstatt ihren Ideen zuzuhören. 

Die Erfinder der Nation rannten gegen den ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik an, als seien sie keine Wand aus Blei. Einer der Nachwuchswissenschaftler schlug vor, die Ideen nach den Hauptsätzen zu sortieren, gegen die sie verstießen, den ersten, den zweiten - oder alle beide.
Aldous hat einen Narren an Solarkraft gefressen. Er glaubt fest daran, dass man die Photosynthese durch chemische Prozesse synthetisieren kann. Da unter Beards (nachlässiger) Schirmherrschaft jedoch zur Zeit an Windkrafträdern geforscht wird, versucht Aldous ihn immer wieder erfolglos, für die Solarkraft zu erwärmen. Doch die Appelle laufen ins Leere.
Nach einer Klimakonferenz im eisigen Spitzbergen kehrt Beard schließlich nach Hause zurück und ihm steht plötzlich, lediglich in einen Bademantel gekleidet, jener Tom Aldous gegenüber. Ihm wird sofort klar, dass Patrica sich den jungen Assistent wohl als neuen Liebhaber zugelegt hat (das wäre dann Nummer 2 auf der Liste) und kündigt kurzum an, Aldous aus dem Institut zu werfen. In einem verzweifelten Versuch, seinen Job zu retten, will Aldous seinem Chef die Treppe hinauf folgen, rutscht aus und schlägt sich an der Ecke des Glastisches den Schädel ein. Er ist sofort tot.
Relativ schnell fasst sich der geschockte Beard. Er präpariert den “Tatort” so, dass es aussieht, als habe Patricas erster Liebhaber, ein grobschlächtiger Handwerker, den unerwünschten Nebenbuhler erschlagen. Durch Glück und geschicktes Timing gelingt es ihm, tatsächlich ein wasserdichtes Alibi vorweisen zu können und der verdächtigte Ex-Geliebte landet im Gefängnis.
Ein noch viel größeres Glück stellt für Beard eine Mappe dar, die Tom Aldous angefertigt hat und auf der “Für Professor Michael Beard persönlich” vermerkt steht. In dieser Mappe stehen sämtliche Ideen und Überlegungen bezüglich künstlicher Photosynthese, die der Pferdeschwanz in seinem kurzen Leben ersinnen konnte. Da packt von dem beleibten Beard ein weiteres Mal die Kühnheit Besitz und er beschließt, auf diesen Ideen eigene Forschungen aufzubauen. Anstatt immer nur dieselben langweiligen Vorträge über das Beard-Einstein-Theorem zu halten, will er endlich einmal etwas Neues präsentieren. Die Welt verblüffen. Was käme da gelegener, als ein neues Verfahren, völlig umweltschonend Strom zu erzeugen, um... sagen wir, eine ganze Stadt zu versorgen?


Bei dem Physik-Professor Michael Beard haben wir es zu tun mit einem wahrlichen Antihelden. Mit Ende zwanzig hat er aufgrund einer genialen Entdeckung den Nobelpreis erhalten und liegt seitdem auf der faulen Haut. Seine wissenschaftlichen Bestrebungen sind im Sande verlaufen, er hält fortwährend Vortrage über immer dasselbe Thema, trägt seinen Namen und den dazu gehörigen Titel spazieren und hat keinerlei Elan, in seinem Leben noch irgendetwas Neues zu erforschen. Der fehlende Ehrgeiz hat sich auf alle Lebensbereiche ausgebreitet. Er ist dick, unattraktiv, verhält sich gegenüber seiner Frau untreu und unaufrichtig und will an diesem Zustand aber auch nichts ändern (ohne Einbußen seines Komforts hinzunehmen). Sein Bestreben scheint es zu sein, es immer so bequem wie möglich zu haben. Sein Leitmotto wird in dem folgenden Satz auf den Punkt gebracht:
“Das Vernünftigste wäre es, sich zu verdrücken.”
Was er eigentlich meint, ist: Am wenigsten Scherereien würde es mir bringen, wenn ich mich jetzt aus der Affäre ziehen und den anderen den Ärger überlassen würde.
Auf der einen Seite merkt man ihm in manchen Situationen an, dass der kluge Geist trotz allem in ihm steckt. In Situationen, wo spontane Genialität verlangt ist, kommen ihm die verblüffendsten Lösungen in den Sinn. In Situationen, die keinerlei Intelligenz verlangen - wie einfache Alltagssituationen - stellt er sich aber schlichtweg blöd an, wirkt hilflos und weitgehend trottelig. Das erinnert an das Wesen von echten Genies, die in ihrem Fach unschlagbar sind aber ohne Erinnerungs-Post-Its noch nicht einmal die Kaffeemaschine unfallfrei bedienen können. Diese Eigenschaften lassen Michael Beard wirken wie die maßlose Übertreibung eines Professors, der allerdings nicht mehr der Wissensschaffung dient sondern einer eigenen Popularität.
Mit seiner hilflosen Bequemlichkeit auf der einen Seite, dem Kalkül und seiner Bauernschläue auf der anderen Seite bekommt die Figur des Michael Beard eine starke Ambivalenz. Obwohl er mir als Leser eindeutig als unsympathisch erscheint, musste ich trotzdem feststellen, dass ich beim Lesen immer für ihn gehofft und gefiebert habe. Denn obwohl sich Beard nahezu passiv verhält, sämtliches Unheil und Glück auf sich zukommen lässt, sorgen doch die Umstände dafür, dass er sich am Ende doch für eine Sache einsetzt, die für diese Welt sinnvoll ist. Egal, ob er die Forschungen aus Überzeugung führt (wie Tom Aldous es getan hätte) oder um seinen eigenen Namen mal wieder ins Gespräch der Wissenschaft zu bringen - der Erde könnte es egal sein. Hauptsache ist ja, dass irgendjemand alternative Energien entwickelt, um die Ausbeutung und Erwärmung der Biosphäre zu stoppen. Auch wenn der jemand ein selbstsüchtiger und grundsätzlich träger Kerl ist.
Michael Beard übernimmt also nun diese Aufgabe. Er sorgt dafür, dass es das Thema Energiegewinnung durch Solarkraft in die Nachrichten schafft und er gewinnt ein paar Investoren, die ihr Geld in die Zukunft anlegen wollen. Und er wird von seinen eigenen Sünden bestraft. Just in dem Moment, als er mal dabei war, etwas Nützliches für die Welt zu tun.

Der Mensch (und im Speziellen die Wissenschaft), so kann man also festhalten, steht sich die meiste Zeit selbst im Wege. Ob es um die Erhöhung des Frauenanteils in technischen Fächern geht oder ob es gilt, die beständige Zerstörung der Erde durch Ressourcenausbeute zu stoppen: Irgendwer ist immer da, der mit dem Arsch einreißt, was gerade dabei war, zu gedeihen.
Die Diskussion über Frauen in technischen Universitäten wird durch eine unbedachte Äußerung Beards erstickt in einer Empörungswelle, die mit Begriffen wie Diskriminierung und Nazi-Professor um sich wirft, ohne dass noch irgendwer darüber spricht, wie man Frauen in technischen Berufen entgegen kommen kann. Das alles nur, weil die Öffentlichkeit Lust auf ein bisschen Skandal-Feeling hatte.
Ebenso werden die Bemühungen zur umweltschonenden Energiegewinnung zunichte gemacht, weil ein einzelner Mensch nicht dazu in der Lage ist, aus eigenen Ideen Kapital zu schlagen, sondern sich aufmerksamkeitsgierig auf die kostenlos errungenen Gedanken eines anderen stürzt.
So kreist der Mensch um sich selbst und gibt sich dabei das Gefühl, mit vielen wichtigen Dingen beschäftigt zu sein. In Wirklichkeit wird dem eigentlichen Ziel nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Ob eines der erstrebenswerten Ziele am Ende wirklich erreicht wird, bleibt mehr oder minder dem Zufall überlassen.
Schlussendlich wirft McEwan der Menschheit also vor, dass sie nichts zu Wege brächten, ohne sich endlos in irgendwelchen Nebensächlichkeiten zu beschäftigungs-therapieren, aber das ist ehrlich gesagt für einen halbwegs aufmerksamen Beobachter der sogenannten “öffentlichen Diskussion” auch nichts Neues. Lösungsvorschläge oder Ideen, wie es besser gehen könnte, bleibt uns der Autor auch schuldig.

So richtig innovativ ist der Roman also unterm Strich nicht. Für mich war er dennoch lesenswert, da er von einer herrlich scheußlichen Hauptfigur getragen wird, die bei mir zwischen dezentem Mitgefühl und ehrlichem abgrundtiefem Hass rangierte.
Die Hauptfigur ist dem Autor meiner Einschätzung nach also wunderbar gelungen. Was den sonstigen sprachlichen Stil angeht, gab es nichts Herausstechendes zu bemerken. McEwan schreibt massentauglich. Zynismus gelingt ihm auf besonders herablassende Art darzustellen (siehe Zitat oben). Um Gefühlseindrücke zu beschreiben, findet er für meinen Geschmack weniger beeindruckende aber dafür wirklich zutreffende Worte. 
In Beards Katalog gescheiterter Ehen hatte sich keine - durch sein eigenes Zutun - so blödsinnig lange hingezogen, keine hatte ihn so geschwächt und derart lächerlicheTagträume und verstiegene Verrücktheiten und eine solche Gewichtszunahme mit sich gebracht wie diese seine fünfte und letzte.
Nach allen Kritikermeinungen soll “Abbitte” von Ian McEwan herausragend sein und “Solar” um Längen zu schlagen. Diesen Roman werde ich mir nach diesem Vergleich definitiv zu Gemüte führen.

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