Sonntag, 15. Juli 2012

Xu Xing: Und alles, was bleibt, ist für dich

Dieses Buch ist durch schieren Zufall auf meinen Lesestapel gelandet. Bei einem kleinen Bummel durch die örtliche Buchhandlung entdeckte ich einen Stand voller angegrabbelter Restposten. Zwischen den vielen weniger attraktiven Quatschbüchern mit Krawalltiteln gab es doch hin und wieder einen ungewöhnlich klingenden Titel mit auffällig unauffälligen Coverbildern. Das Buch von Xu Xing hat mir auf Anhieb gefallen.
Spontankäufe machen total viel Spaß, habe ich wieder einmal festgestellt - und sind durchaus von Erfolg gekrönt, wie ich in diesem Fall verraten darf.


Das Buch erzählt von zwei Brüdern im Geiste. Der namentlich nie erwähnte Erzähler und sein bester Freund Xi Yong leben in China wie die Vagabunden. Sie haben beide keine Arbeit, finden den Gedanken, eine tägliche, immer gleiche Aufgabe zu verrichten abschreckend und sind dementsprechend pleite. Über letzteres können sie sich fortwährend immer wieder mitleiderregend beklagen. Im ersten Teil des Buches lernt der Leser das Landstreicherleben in China kennen. Durch Zufall treffen die beiden Kameraden auf einen Regisseur, der ihnen für kleine Statistenrollen ein paar Yuan in die Hand drückt. Sie ernähren sich von Melonen und von dem, was Erbarmungsvolle ihnen geben, reisen von Dörfchen zu Dörfchen (entweder zu Fuß oder stückweise mit dem Bus). Für wenige Yuan mieten sie sich manchmal eine kleine Herberge zur Übernachtung, oft müssen sie aber auch einfach unter freiem Himmel schlafen. Xi Yong ist der glückliche Besitzer eines Institutsausweises, den er immer dann hervor holt, wenn ein Beamter keine Ambitionen zeigt, seiner Arbeit nachzugehen oder wenn die beiden Freunde kein Quartier finden. Der Ausweis wirkt wie ein Wunder. Er schafft Respekt und Höflichkeit, wo vorher nur herablassende Worte und Blicke geherrscht hatten. Und das ist wichtig; denn in einem Land, in dem man nur durch Bestechung zu seinem Recht kommt, wären zwei besitzlose Wanderer ein Freiwild für jede Art der Willkür.
Bei einer Busfahrt im Städtchen W. (die Stationen der Reise in China werden nur mit den Anfangsbuchstaben benannt) ertappen sie einen muskulösen Schlägertypen dabei, wie er einem jungen Mädchen unter den Rock fasst. Dass zufällig ein Polizist in dem Bus sitzt, nutzt weder dem Mädchen etwas, noch den beiden Vagabunden, die mutig einschreiten. Kaum hat der Bus angehalten, steigen Xi Yong und der Erzähler aus, um den Muskelprotz für seine Belästigung zu bestrafen. Leider sind sie ihm körperlich völlig unterlegen und werden rettungslos verhauen. Das Mädchen ist unterdessen lautlos geflüchtet.
So hangeln sich die beiden mehr schlecht als recht durch ihr bescheidenes Leben. Ihr Denken wird davon bestimmt, welche Bedürfnisse sie sich auf Grund mangelnden Geldes nicht erfüllen können. Sie beklagen sich über die Unehrlichkeit der Menschen, die Unerreichbarkeit der holden Weiblichkeit und die schlechte Behandlung. Sollte ihnen ein Zufall Geld in die Taschen spülen, geben sie es aus, um ihren drängendsten Wünschen nachzugeben und kurz darauf stehen sie wieder genauso arm da wie vorher. Zukunftsgewandtes Planen und Anlegen gehört nicht zu den Handelsweisen, die sich die beiden zu eigen gemacht haben.

Xi Yong ergreift die Gelegenheit, nach Europa auszuwandern, als er erfährt, dass er eine Großtante in Deutschland hat. Sie führt dort ein kleines asiatisches Restaurant und ist bereit, ihn aufzunehmen. So bleibt der Erzähler zunächst allein in China zurück und liest die Briefe seines “Bruders”. In diesen Briefen muss er erfahren, dass auch in Deutschland nicht das Geld auf der Straße liegt und dass Xi Yong hart in dem Restaurant arbeiten muss, um sich über Wasser zu halten. Die Großtante bezahlt das Personal weit unter Tarif, verstaut den Gewinn des Restaurants lieber in ihrem Tresor, um damit Mahjongg spielen zu können. Ohne das schützende Obdach der Großtante jedoch ergeht es dem einsamen Chinesen nicht gerade besser. Dem Ruf der Chinesen getreu lässt er sich für einen Apfel und ein Ei für kriminelle Kurierdienste anheuern und es gelingt ihm natürlich auch, sich von der Polizei dabei erwischen zu lassen.
Endlich lässt der Freund sich dazu ermuntern, Xi Yong zu folgen. Der zweite Teil des Buches erzählt die Erlebnisse der zwei ewig Glücklosen in den Mahlwerken der fremden Kultur. Die Menschen in Deutschland, so müssen die beiden bitter lernen, sind auch zwar weniger bestechlich, aber in allen anderen Charakterschwächen stehen sie den Chinesen in nichts nach. 

Alles kannst du zugeben: daß du nichts im Bauch hast, keine Gefühle oder kein Gewissen - das macht alles nichts. Du kannst sogar sagen, daß du keinen Schwanz hast. Du kannst sagen, daß du total verkommen bist oder ein Idiot, kein Problem. Sogar, daß du von der Syphilis zerfressen bist. Aber sag nie, daß du kein Geld hast. [S. 203]
Nach so vielen zwischenmenschlichen und moralischen Enttäuschungen treibt es den Erzähler schließlich wieder zurück nach China. Dort ist (nach seiner Aussage) es eben doch besser. Die Menschen dort sind nicht von Geldgier zerfressen wie die Europa. Diese Ansicht scheint er ernsthaft zu vertreten, obwohl er die Bestechlichkeit der chinesischen Beamten kennengelernt hat und gesehen hat, wie arm europäische Arme (also in dem Falle Punks) sind. Der dritte Teil des Buches beschreibt die Heimkehr, die sich schließlich als größte Enttäuschung von allen herausstellt. In den Monaten seiner Abwesenheit hat sich Peking komplett gewandelt, wird umgebaut und entpuppt sich zu einem Abklatsch der europäischen Kultur.


In diesem Roman hat ein Menschenschlag die Hauptrolle inne, von dem angenommen werden kann, dass es ihn gar nicht gäbe: Der nutzlos Mensch (wie es im Nachwort von Irmy Schweiger so schön bezeichnet wird). Er hat nirgendwo einen Platz, wird mit Ablehnung empfangen und meist ist das Misstrauen, aus dem diese Ablehnung resultiert, nicht ganz unbegründet. Als besitz- und tatenlose Partikelchen lassen sie sich durch das Land spülen, lernen die Welt von verschiedenen Himmelsrichtungen kennen und erleben das alltägliche Unrecht immer wieder neu. Obwohl sie das Unrecht so oft sehen, sind sie doch zu schwach, daran etwas zu ändern. Dies könnte eine Parallele darstellen zur Biografie des Autors Xu Xing, der als Kind ebenfalls mittellos durch halbwegs illegale Taten seinen Lebensunterhalt bestreiten musste (nachzulesen in besagtem Nachwort von Irmy Schweiger).
Die Moral- und Bestechungsphilosophie in China scheint etwas zu sein, was in aller Öffentlichkeit verleugnet wird, sondern nur wie eine dunkle Metawelt in den Köpfen der Leute bewusst ist. Eine Art zweite Realität, die jeder kennt, von der aber niemand spricht. Die offizielle Oberwelt Chinas dagegen wirkt blütenrein und wird von allen Bürgern bereitwillig verteidigt. In diesem FAZ-Artikel mit dem Historiker Wu Si wird diese (für europäische Verhältnisse befremdliche) Mentalität der Chinesen angesprochen.
Obwohl sie sich von Europa ein romantisches Bild von allgegenwärtigem Reichtum ausgemalt haben, lernen die beiden Streuner auch dort nur weiteres, anderes Unrecht kennen. Wer aus einem armen Land kommt, wird mit den Reichen kaum an einem Tisch sitzen. Um an das lebensnotwendige Elixier namens Geld zu kommen, sind Prostituierte, Drogenschmuggler, Einwanderer und Abgestürzte in Europa zu noch rücksichtloseren Taten bereit als in China. Da Xi Yong und sein “Bruder” die Welt nur von unten kennen und nicht wissen, wie es “da oben” aussieht, trifft der Vergleich eines befreundeten chinesischen Immigranten ihren Eindruck ganz gut:
Die Erfahrungen jener Monate hatten den Mathematiker gelehrt, daß das Leben nichts anderes war als eine Grube, in der die Scheiße hier etwas tiefer und dort etwas weniger tief stand. Am Rand der Grube drängten sich die Leute und hatten entweder Glück oder Pech. Zwar stank es überall bis zum Himmel, doch wehe dem, der ausrutschte, den beschuldigten gleich alle, er stinke am meisten, nur um selbst im Vergleich etwas sauberer dazustehen. [S. 178]

Trotz aller Klage, die in dem Buch von den Protagonisten vorgetragen wird, trotz allen Leidens und aller Traurigkeit, schafft es der Autor, doch ein lebendiges Bild von China und von Deutschland aus Sicht eines Außenseiters zu beschreiben. Die Sprache zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, Bilder aus Metaphern zu malen, die mahnend und beeindruckend zugleich sind. Der Erzähler muss in Deutschland in einer Fabrik arbeiten (wie üblich für einen Hungerlohn), in dem leere Flaschen über ein langes Fließband transportiert werden. Was in der Fabrik hergestellt wird, erfährt der Leser nie; aber der frustrierte, ausgebeutete Arbeiter fühlt sich selbst wie einen riesigen Tier eingesperrt. 
Das Fließband wand sich lärmend kurz und quer durch die Halle wie der Dickdarm eines Tieres, und egal wo oder nach Art welches Landes verdaut wird, mein Platz ist wie immer am Ende des Dickdarms, beim Arschloch. Bei dieser Art Arbeit und bei meinem Pech werde ich wohl mein ganzes Leben lang weder den Magen noch den Mund zu Gesicht bekommen. [S. 190]
Derartig verblüffend ausdrucksstarke Bilder findet man im Buch ganz häufig. Sie verhindert, dass man als Leser sich hinein ziehen lässt in Hoffnungslosigkeit. Sie hat mich zumindest oft genug in spontanes Staunen versetzt, sodass ich ganz vergessen habe, mit den Protagonisten mitzuleiden.
Mein Fazit ist also durchweg positiv. Ein erfreulicher Glücksgriff in die “Truhe der Bücher, die keiner (mehr) haben will” und eine Empfehlung für Neugierige.

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