Freitag, 2. Dezember 2011

Stanislaw Lem: Also sprach Golem

Um im Krieg kluge Taktiken und Manöver berechnen zu lassen, entwickeln die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts immer intelligentere Rechenmaschinen. Die Computer können sich selbst programmieren und durch Erfahrungen lernen. Ein Forschungsprojekt der USA entwickelt eine Serie von stetig verbesserten Robotik-Genies, die GOLEMs. Bald ist die jüngste Computergeneration klug genug, um für taktische Entscheidungen im Krieg eingesetzt zu werden, aber der GOLEM hat kein Interesse am Krieg.
Er ist zu intelligent für solch profane Tätigeiten. Damit er wenigstens auf andere Weise für die Bevölkerung nützlich wird, hält er nun an der Universität Vorträge über das Leben, den Menschen und die Vernunft.

Zunächst geht es um die größenwahnsinnige Annahme der Menschen, die Krone der Schöpfung zu sein. GOLEM macht den Menschen klar, dass der Motor der Evolution (also die Mutation) im Grunde nichts weiter ist, als ein nicht korrektes Vererben von DNA zur nächsten Generation. Der Mensch ist also lediglich das Resultat zufälliger Schlampereien in der Reproduktion früherer Arten.
Als nächstes weist er nach, dass der Mensch zwar unheimlich komplex sei, aber eben auch unheimlich empfindlich. Ein verkalktes Gefäß, ein Knochenbruch im Genick oder eine ungeklärte psychosomatische Erkrankung können dem Menschen ohne weiteres den Garaus machen. Eine Amöbe hingegen stirbt nur, wenn sie nicht mehr genug Nahrung findet. Insofern war die Krone der Schöpfung zu Beginn der Evolution längst erschaffen.

Sukzessive weist er der Menschheit ihre eigene Unperfektheit nach und - viel schlimmer noch - zeigt ihnen, dass sie zu einer noch größerer Unperfektion streben. Emotionen, Körper, Persönlichkeit und Liebe sind für den GOLEM Makel einer Spezies, die Vernunft hervorgebracht hat, deren Vernunft aber an einen unzulänglichen Körper gebunden ist. GOLEM selbst hingegen besitzt keinen Körper im eigentlichen Sinne, er ist die Vernunft im Reinzustand. Für das Weiterleben der Menschen in ihrer jetzigen Verfassung sieht der Computer keine Chance, seiner Einschätzung nach gibt es für die Menschen nur zwei mögliche Wege für ihre eigene Rettung. Beide werden nicht besonder angenehm sein.


Ausgenommen des Vor- und Nachworts (beides kurze Abrisse von menschlichen Erzählern) gibt es in Also sprach Golem keine Handlung und keine Charaktere. Es sind eben Vorträge einer unverschämt klugen Maschine. Dementsprechend liest sich das Buch nicht leicht weg, man muss gut mitdenken und nachvollziehen, was GOLEM erzählt, um ihn zu verstehen. Wer eine ungefähre Vorstellung davon erhalten möchte, was mit "liest sich nicht leicht" gemeint sein könnte, möge hier den ersten Satz aus seinem ersten Vortrag "Dreierlei über den Menschen" überfliegen:
So kurz erst habt ihr euch vom wilden Stammbaum abgelöst, so eng seid ihr noch mit den Lemuren und Halbaffen verwandt, daß ihr, nach Abstraktion strebend, der Anschaulichkeit nicht entbehren könnt, so daß ein Vortrag, der nicht auf praller Sinnlichkeit beruht, der voll von Formeln ist, die über einen Stein mehr sagen, als euch das Betrachten, Belecken und Betasten dieses Steins verraten können, euch langweilt und abstößt oder doch ein Gefühl der Unbefriedigung zurückläßt, daß selbst den hohen Theoretikern, den Abstraktoren eurer höchsten Klasse, nicht fremd ist, wovon zahlreiche Beispiele aus den vertraulichen Geständnissen von Wissenschaftlern Zeugnis geben, denn sie bekennen sich in überwältigender Mehrheit dazu, sich beim Entwickeln abstrakter Argumente ganz auf sinnlich faßbare Dinge stützen zu müssen. 
Stilistisch ändert sich daran im Lauf des Buches kaum etwas. Zu Lems Vorliebe für wissenschaftlich klingende Erklärungen und seinen ketzerischen Infragestellungen der komfortablen Selbsteinschätzung der Menschheit, kommt in diesem Buch noch hinzu, dass er im Namen einer Vernunft spricht, die eigentlich viel höher als jedes Menschengehirn entwickelt ist. Noch schlimmer: Er spricht im Namen einer Vernunft aus dem Jahr 2024, die wesentlich höher entwickelt ist, als das Menschengehirn und viel weiter in der Zukunft lebt als der Autor.

Was aus dieser vertrackten Ausgangslage herauskommt, ist vor allem eines: Imponierend.
Imponierend heißt aber nicht auch zwangsläufig erleuchtend. So vertrackt und kompliziert aber auch durchdacht alles klingt, was GOLEM erzählt: Einige Gedanken klingen wirklich interessant. Sie stellen par exampel etwas infrage, was wir Menschen einfach schon immer als gegeben hinnehmen. Was dabei herauskommt, wirkt auf den ersten Moment durchaus richtig. Manchmal wiederum zerstreut sich die erste Einschätzung sofort wieder, wenn man als Leser GOLEMs Schlussfolgerung einfach infrage stellt:
Dass der Mensch ein Parasit der Pflanzen sei und deshalb nur existieren kann, weil es Pflanzen gibt, die aus der Kraft der Sterne ihr Leben beziehen, behauptet er zum Beispiel. Menschen saugen aus den Pflanzen und anderen Pflanzenparasiten nur dieses Leben aus und verwerten es weitaus schlechter als die Pflanzen das aus der Sonnenenergie tun. Alles richtig.
Nun sagt GOLEM, dass die Menschen und alle anderen Parasiten (also Tiere) viel höher entwickelt wären, wenn sie nicht von den Stoffwechselprodukten der Pflanzen schmarotzen würden, sondern selbst Photosynthese betreiben und die Sonnenkraft selbst verwerten könnten. Klingt auch noch logisch? Aber wer soll dann das Kohlendioxid herstellen, was die Pflanze zur Photosynthese braucht? Eine Welt nur voller Pflanzen ist genauso zum Aussterben verurteilt wie eine Welt voller heterotropher Organismen.

In anderen Punkten, wenn es um das Universum und den Schöpfer geht, bleibt GOLEM vage. Er versteckt sich hinter bildhaften Gleichnissen, weil seine menschlichen Zuhörer eher in Metaphern denken. Hinter diesen Metaphern lässt er jedoch stichhaltige Hinweise, konkrete Informationen, Prognosen und Stellungnahmen verschwinden.
Er tangiert die Biologie, die Chemie, die Astrophysik und erweckt den Eindruck, umfangreich informiert zu sein - was auch stimmt. Um wirklich konkret zu werden, müsste der Autor aber doch ein Supercomputer aus dem Jahr 2024 sein. An manchen Stellen merkt man das. Über weite Strecken regt er aber zu erstaunlichen philosophischen Gedanken an.

Wer also mutig ist, sich von Tech-Sprech nicht langweilen lässt und über einen ausdauernd wachen Geist verfügt, kann sich hier zu interessanten Denkrichtungen anregen lassen. Eine Person, die GOLEMs Ausführungen offenbar mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, ist die spröde Biolehrerin Frau Inge Lohmark aus Judith Schalanskys "Hals der Giraffe". Sie stellt dem Wesen der Menschen das gleiche minderwertige Zeugnis aus wie GOLEM.

1 Kommentar:

  1. Das ist eine sehr schöne Rezension vom Lems Golem. Schön ist herausgearbeitet, dass der Text eine Rahmenhandlung besitzt, die in der Antrittsvorlesung "Dreierlei über den Menschen" ihren Kristallisationspunkt findet.

    Der Sinn der Boten ist die Botschaft. Die Botschaft ist ein irrender Irrtum und ein Brief der von Niemandem an Niemanden geschrieben wurde. Die Botschaft dient nicht dem Boten. Der Bote dient der Botschaft. Während die Boten nur vergängliche Gerüste sind, steigt die Botschaft in immer komplexere Strukturen auf. So, wie aus der diskreten Natur der Materie, die diskrete Natur des Codes hervorgeht, der die diskrete Natur der ethnischen Sprache evolvieren lässt, evolviert daraus die diskrete Struktur der Kultur, die die biologische Natur übersteigt. (Übrigens gibt es z.B. in der Nähe von schwarzen Rauchern Bakterien, die Photosynthese mit Schwefel als Ausgangsstoff und den wenigen Photonen der Schlote betreiben.). Man fühlt sich an Richard Dawkins (1976), aber auch an Carsten Bresch (1977). erinnert „Wenn es auf der Welt ein unerschöpfliches Rätsel gibt, so ist es eben dies - daß sich die Desordre der Materie oberhalb einer bestimmten Schwelle in den Code umwandelt, als Sprache der Nullstufe, und daß sich dieser Prozess auf der nächsten Stufe echoähnlich wiederholt - in der Schaffung der ethnischen Sprache; aber das ist noch nicht das Ende des Weges; diese Systeme des widerhallenden Echos steigen rhythmisch höher, aber in ihren Besonderheiten wie auch in ihrer Geschlossenheit kann man sie nur von oben nach unten erkennen, nicht anders – doch über diese faszinierende Sache werden wir vielleicht ein andermal reden.“ LEM, S.: Golems Antrittsvorlesung Dreierlei über den Menschen, S. 186, in Imaginäre Größe, Frankfurt 1976 (Original 1973)

    AntwortenLöschen