Weniger scherzhaft zeigt sich die Geschichte, wenn man der Familie eine Zeit lang beim Leben zuschaut. Der Kummer, den sie umgibt, trägt nur anfangs die Gestalt eines furzenden Hundes.
Die zweitälteste Tochter Franny wird als Schulkind bei einem Bandenstreich vergewaltigt (da war der Hund Kummer gerade vor wenigen Tagen eingeschläfert worden). Anstatt das Erlebte zu verarbeiten, redet sie es klein und sagt später immer nur, sie sei "verprügelt" worden. Ihr jüngerer Bruder John trainiert daraufhin seine Muskeln, um Franny besser beschützen zu können und auch - das wird ihm später erst klar - weil er sie liebt. Mehr als man eine Schwester lieben sollte.
Mutter Berry und der jüngste Sohn kommen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben - auf dem Schoß die ausgestopfte Hülle des furzenden Hundes Kummer. In Wien treffen sie Susie den schlauen Bären (eigentlich die schlaue Frau im Bärenkostüm). Sie findet sich hässlich und abstoßend, sodass sie lieber als Bär unter Leuten geht.
Eine der radikalen Terroristen, die im Hotel wohnen, trägt das seltsame Pseudonym Fehlgeburt. Sie soll für einen terroristischen Anschlag das Auto mit der Bombe steuern und wird bei dieser Explosion ihr Leben verlieren. Sie ist damit einverstanden, denn von allen Mitarbeitern der Vereinigung ist sie am wertlosesten. Alle anderen haben noch wichtige Funktionen. Sie nicht, sie ist entbehrlich.
Die Grausamkeit und Vielfalt des Kummers, auf den die Familie trifft, steht in einem krassen Kontrast zu dem verspielten Märchen, was das Buch eigentlich erzählt. Die Familie macht Bekanntschaft mit Verlust, Selbstverachtung und -verletzung.
Das Verdrängen einer Gewalttat, die zum Scheitern und Schmerz verurteilte Liebe zur eigenen Schwester, der Verlust geliebter Familienmitglieder und diese unerklärbare Grausamkeit, mit der Menschen mit sich selbst ins Gericht gehen, scheint jeden Hoffnungsschimmer zu ersticken, die der Familie ein glückliches Leben bescheren könnte.
Doch die Berrys werden einfach nicht unglücklich. Als Sinnbild für ihre naive aber wirksame Art, mit allem Übel umzugehen, steht die Fabel vom Mäusekönig: Der Mäusekönig hielt sich immer von offenen Fenstern fern, um schlussendlich mit den vergnügten Worten "Ernst ist das Leben, heiter die Kunst" doch in den Tod zu stürzen.
Das Hotel New Hampshire erzählt eine Geschichte wie für das Märchenbuch bestimmt. Es erfreut mit liebevollen Charakteren, erschüttert voller Niedertracht und bleibt doch ein Märchen - unwirklich, fantasievoll und schön. Irving erschafft vielfältige Charaktere, dramatische Schicksale, lässt dabei den Witz nicht außenvor und gibt manchem Ressentiment einen klamaukhaften Gastauftritt. Manche Figuren kommt dem geneigten Irving-Leser sicherlich bekannt vor - allen voran die Tomboy-ähnliche starke Frauenrolle, Homosexualität, Inzest und ein Bär. Doch es liest sich nicht wie ein langweiliges Deja-vù sondern wie ein Wiedersehen mit alten Freunden."Kummer schwimmt obenauf, Liebe auch, und – letzten Endes – auch das Unheil. Es bleibt obenauf."
Irvings Sprache ist erzählerisch in bekömmlichem Stil geschrieben. Es gibt keine komplizierten Wortwendungen, umständliches Gestelze sondern klare und einfache Beschreibungen, die sich an Bildgewalt so manches Mal buchstäblich übereifern. Auch sorgfältig ausgewählte kluge Sätze oder Gedichte glänzen in dem (gern mal mit derben Fluchwörtern angereicherten) Grundtenor umso brillianter hervor. Diese Sprache will nicht Ehrfurcht heischen, sie will den Leser einfach nur mitnehmen und das tut sie auch.
Fazit:
Dies ist ein Buch für alle, die die Neugier am Mensch-Sein nie verlieren.
(Haltet euch von offenen Fenstern fern.)
Ich bin gerade über die extrem depressive Zukunftspessimistische Sicht von Roth in „Die Demütigung“ erschreckt, dabei frage ich mich immer wie stark autobiographisch solche Romane sind. Wie hast du das bei Hotel New Hampshire empfunden? Die ganze Inzest Liebe, diese skurrilen Prostituierten, seine männliche Frauen Obsession, dass alles aus der Ich-Perspektive macht einen schon nachdenklich oder?
AntwortenLöschenDie Frage habe ich mir tatsächlich gestellt und nach kurzer Recherche, steht fest, dass einige Motive tatsächlich autobiografischen Urpsrungs sind: Wien und New Hampshire z.B. sind Städte, in denen er selbst studiert hat, er war Legastheniker (wie der Ich-Erzähler in Owen Meany), hat als Teenager mit Ringen angefangen (daher das häufige Auftreten körperbetonter Sportarten) und hat sich schwer begeistert für die Blechtrommel (daher stammt wohl unter anderem der Hang zu kleinen skurillen Personen).
AntwortenLöschenWas den Rest anbelangt, kann ich mir vorstellen, dass er da auch aus eigenen Erfahrungen berichtet aber (grad im Fall des Inzests) solche Dinge dürfen gern privat bleiben. Ich will es im Grunde lieber garnicht wissen :P
Was auch immer daran autobiographisch ist oder nicht, das Buch hat mir wahnsinnig gut gefallen und hat mich erst auf ihn als Autor aufmerksam gemacht. Am herrlichsten finde ich seinen Humor und Witz, der sich trotz aller Tragik durch das gesamte Buch zieht. Auch sehr nach meinem Geschmack: "Die vierte Hand". Was ich allerdings ganz langweilig fand: "Letzte Nacht in Twistet River".
AntwortenLöschenOha, gut zu wissen - ich habe schon überlegt, was ich als nächstes von Irving lesen sollte. Von Letzte Nacht in Twisted River sind offenbar viele eher enttäuscht. Aber ich werde mir mal die vierte Hand anschauen. Danke für den Tipp :-)
AntwortenLöschenhallo,
AntwortenLöschenkann mir jemand mitteilen, auf welcher Seite im Buch die Fabel des "Mäusekönigs" beschrieben wird?