Samstag, 5. November 2011

T. C. Boyle: Das Wilde Kind

Bei diesem Buch handelt es sich um eine wahre Begebenheit, die von Boyle (natürlich fiktional angereichert) nacherzählt wird.

Im Wald in der Nähe von Lacaune im Jahre 1797 streifen Jäger durch den Wald und erspähen einen kleinen Menschen, der Eicheln knackt und auf allen Vieren läuft. Sie halten die Erscheinung zunächst für Einbildung. Kurze Zeit darauf findet ein Bauer den wilden Jungen (er ist nicht älter als acht) in seinem Acker, wo er rohe Kartoffeln ausbuddelt und auf der Stelle hinunter würgt. Nachdem allerlei Spekulationen über das seltsame wilde Kind die Menschen in Aufruhr bringen, gehen die Männer des Dorfes  schließlich los, um den Jungen zu fangen.
Das Verhalten und der Zustand des Kindes weckt auf der Stelle das Interesse der Wissenschaft. Das "enfant sauvage" wird nach Paris gebracht, wo der junge, aufstrebende Doktor Itard sich seiner annimmt. Er will aus dem Wilden (der keinerlei Bezug zum Menschen und menschlichen Verhaltensweisen zu kennen scheint) einen gesellschaftsfähigen Menschen machen, ihm Sprechen und den gepflegten Umgang beibringen.

"Dieser unverwandte Blick - die Augen, so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee, das Fletschen bräunlich verfärbter Zähne - war der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi: fremd, gestört, hassenswert. Es war der Bauer, der sich abwenden musste."
Boyle beschreibt die wundersame Begegnung von Zivilisation mit der Natur. Anfangs stehen sie sich noch feindlich gegenüber, beschnuppern sich misstrauisch und wissen miteinander nichts anzufangen. Von einem Moment auf den anderen, beschließt die Zivilisation, dass sie sich das Geschöpf der Natur einverleiben will. Mit allen bekannten Mitteln versuchen die Zivilisierten den Wilden nach ihren Vorstellungen zu unterwerfen und zu dressieren.

Die Sprache T. C. Boyles begleitet diese Erzählung auf fantastische Weise. Seine Wortwahl passt sich an die Person an, die er beschreibt. Das wilde Kind wird anfangs noch mit Worten beschrieben, die an ein Tier denken lassen. Der Junge frisst, fletscht die Zähne und scharrt in der Erde wie ein Schwein. Man erfährt aus seiner Sicht nie wirkliche Gedanken, sondern immer nur Gefühlsregungen, die in einem Augenblick auf ihn einströmen. Man kann sprichwörtlich fühlen, wie anders seine Welt ist und wie fern er den Menschen steht, die versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. 
Im späteren Verlauf, als Itards Bemühungen der Erziehung schon im vollen Gange sind, verändert sich allmählich die animalische Beschreibung des wilden Kindes. Statt zu "fressen", lernt er Besteck zu benutzen und seine Tätigkeiten werden mehr mit Worten beschrieben, die eher zu Menschen passen.

Die Geschichte berichtet von der gewaltsamen Verformung eines Wesens, die Entwicklung eines Akademikers, der an die Grenzen seiner Fähigkeiten stößt und die Arroganz einer Gesellschaft, die etwas als "schlecht und primitiv" aburteilt, nur weil es nicht der eigenen Vorstellungen des Mensch-seins entspricht. Es zeigt, wie weit sie sich von ihren eigenen Wurzeln entfernt haben.
Schlussendlich schafft es die Zivilisation, das Wilde aus dem Kind herauszutreiben ohne ihm als Ersatz eine andere Persönlichkeit beizubringen. Er bleibt irgendwo zwischen Natur und Zivilisation hängen, wie ein Quadrat, dass zu einem Kreis umerzogen werden sollte und als krummes, unförmiges Gebilde enden muss.

Fazit:
Ein denkwürdiges Buch, stimmungsvoll und intensiv erzählt: Der Ausflug zu den psychologischen Wurzeln unseres Mensch-seins.

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