Mittwoch, 16. November 2011

William Golding: Herr der Fliegen

Eine Gruppe englischer Schuljungen landet beim Absturz ihres Flugzeugs auf einer Koralleninsel. Keiner der Erwachsenen überlebt den Absturz. Die Kinder sind nun auf sich allein gestellt.
Vorbildlich beginnen sie, sich zunächst zu sammeln und zu organisieren. Sie wählen demokratisch einen Anführer und legen einfache Regeln des Zusammenlebens fest. Als erstes muss dafür gesorgt werden, dass die Insel möglichst schnell von Schiffen entdeckt wird, damit sie gerettet werden können. Zu diesem Zweck entzünden sie ein Feuer auf der Spitze des Berges. Anschließend werden Hütten gebaut und regelmäßig halten die Jungen Versammlungen ab.
Ein friedliches und geregeltes Zusammenleben stellt sich ein. Sie halten bescheiden aber stolz auf ihrer Insel aus, bis jemand sie findet und rettet. Ende.

So schön stellen sich die Jungen anfangs ihr Inselabenteuer vor. Doch die Wildnis lässt sich nicht so einfach bezwingen. Und die Rede ist nicht von der Wildnis der Insel-Flora.


Die friedliche Idylle ihres organisierten, zivilisierten Zusammenlebens hält Wochen allen Schwierigkeiten zum Trotz stand. Allmählich unterwandert eine schleichende Angst die Moral der Jungen. Sie fürchten sich vor einem Tier, was im Wald der Insel umher schleichen soll.
Ralph, der die Rolle des Anführers bekommen hat, kann ihre Ängste nicht zerstreuen. Hilflos versucht er sie zum Durchhalten zu animieren und erinnert sie daran, ihre Aufgaben nicht zu vernachlässigen. Der herrische Jack bezweifelt, dass Ralph geeignet ist, um etwas gegen das schreckliche Tier zu unternehmen. Er steigt aus der Gemeinschaft aus und gründet seinen eigenen kleinen Stamm.
Auf seiner Prioritätenliste steht Schweinejagd ganz oben. Gegen die Gefahr vor dem Tier findet er ein ganz einfaches Mittel: Er bietet von jeder Jagdbeute ein Stück als Opfergabe dar.

Bald schließen sich mehr und mehr Jungen dem konkurrierenden Stamm an. Dort wird kein Anführer gewählt, Jack ernennt sich einfach selbst zum Häuptling, aber dafür gibt es übermütige Tänze, bunte Gesichtsbemalung, Kriegslieder und viel Fleisch. In dieser Gemeinschaft fühlen sich die Jungen plötzlich stark und sicherer.

Völlig fassungslos muss Ralph mit ansehen, wie nahezu die ganze Jungenschar in Jacks Stamm eintritt. Sein vernünftiger Überlebensentwurf - bestehend aus Pflichten, Hoffen und Entbehrung - kann einfach nicht mit Jacks unvernünftigem aber spaßigen Stil mithalten. Es scheint beinah so, als ob Jacks Stamm billigend in Kauf nimmt, niemals mehr von einem Schiff gerettet zu werden. So als ob sie lieber auf der Insel bleiben wollten.


Goldings Roman beschäftigt sich mit einer faszinierenden Beobachtung: Eine Gesellschaft ist immer so komplex organisiert wie die einzelnen Menschen, die in ihr leben. Die Kinder in diesem Buch sind alle vom Erwachsenenalter weit entfernt. Sie sind als Personen noch sehr unterentwickelt. Trotzdem führen sie bei ihrem ersten Zusammentreffen auf der Insel demokratische Regeln ein. Sie ahmen also das nach, was sie von den Erwachsenen kennen.

Der Plan scheitert und keiner von ihnen kann sich erklären, wieso. Auch nicht der Anführer Ralph, der eines der reifsten Kindern auf der Insel ist. Nur einer der Jungen erfährt den Grund, weshalb die zivilisierte Gemeinschaft zerbricht. Im Fieberwahn eines Ohnmachtsanfalls stolpert er direkt vor den abgetrennten Kopf einer Sau, den Jacks Stamm aufgespießt hat. In seiner Fantasie spricht der Schweinekopf mit ihm:
"Und stell dir vor, da habt ihr gedacht, das Tier sei etwas, das man jagen und töten kann!", sagte der Kopf. [...] "Du hast´s gewusst, wie? Daß ich ein Teil von euch bin, von ganz innen, innen, innen?"
Doch keiner der anderen Jungs erfährt davon. Sie lassen Ralph mit seiner Vernunft, seiner Demokratie und seinen Regeln im Stich. Die primitive Häuptlingsherrschaft voller Willkür und Faustrecht entspricht eher ihrer eigenen inneren Entwicklungsstufe. Sie könnten noch einmal probieren, eine gleichberechtigte Gemeinschaft aufzubauen, doch etwas wird sie wieder zum Scheitern verurteilen: Das innere Tier, dass sich zu allem hingezogen fühlt, was am besten zu ihm passt.

Die Sprache Goldings gestaltet sich unkompliziert, Dialoge klingen kindgerecht und glaubwürdig. Faszinierend an dem Roman ist diese langsame Unauffälligkeit, mit der sich der Schatten der Angst über die Gemeinschaft legt. Es sind immer nur kleine Veränderungen, die Verunsicherung hervorrufen und erst am Schluss in einem großen Knall gipfeln. Der Moment, an dem Ralphs Demokratie zerbricht und sich die Jungs lieber der Häuptlingsherrschaft zuwenden.

Eine tiefsinnige Abenteuergeschichte, in der das Abenteuer jäh durch den Wahnwitz der menschlichen Seele abgewürgt wird.

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